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© antje pfannkuchen, Dezember 1999

 

Vom Vortex zum Vortizismus -- Teil 1


Einleitung. London 1914

Am 3. Dezember 1924 schrieb Ezra Pound aus dem italienischen Rapallo an Percy Wyndham Lewis in London:

    I have just, ten years an a bit after its appearance, and in this far distant locus, taken out a copy of the great MAGENTA cover'd opusculus. We were hefty guys in them days; and of what has come after us, we seem to have survived without a great mass of successors.[1]
Der Dichter Pound entsinnt sich des Jahres 1914. The great MAGENTA cover'd opusculus war die erste Nummer der Zeitschrift Blast vom Juni 1914; ihr Herausgeber, der Maler Wyndham Lewis, erinnert Blast als das »hugest and pinkest of all magazines«[2]. Dieses Opus hatte offenkundig eine besondere Bedeutung im Leben beider Männer, die Erinnerung daran wird ihre gesamte 43 Jahre andauernde Korrespondenz durchziehen. Vor allem Pound kommt immer wieder darauf zurück. In der Tat bleibt das Thema vom ersten bis zum letzten Schreiben des im Jahre 1985 edierten Briefwechsels aktuell und kein anderer in dieser Ausgabe indizierter Begriff wiederholt sich im Laufe der Jahre so oft wie Blast. Während Pound 1914 im ersten veröffentlichten Brief noch Blast-Korrekturfahnen von Lewis fordert, schreibt er 1957, nur einen Monat vor Lewis` Tod, der ihre nicht immer ungetrübte, aber fast ein halbes Jahrhundert währende Freundschaft beenden sollte, über eine Radiosendung, welche
    in noticing the disease of modern awt listed all movements save the VORT/ AND as the listed movements were precisely those criticized in BLAST of holy memOry, and as by chance the main VORTS opposed pinkismo from the beginning the coINcidence shd/ be USED.[3]
In diesem letzten Zitat taucht jener Begriff auf, der im Zusammenhang mit Blast auf die Welt kam, im Untertitel der Zeitschrift: ›Review of the Great English Vortex‹. Pound schreibt VORT und referiert damit auf seine vom Vortex abgeleitete Wortschöpfung Vortizismus, bzw. die an der so benannten Kunstbewegung beteiligten Vortizisten, die - wie in besagter Radiosendung - weder zum ersten noch zum letzten Male in einer Auflistung avantgardistischer Künstlergruppen vergessen wurden. Was ist dieser Vortizismus und weshalb ist er für Pound derart bedeutend, daß er sich noch nach über vierzig Jahren, als er die Siebzig bereits überschritten hat, mit seinen damaligen Zielen identifiziert und den Vortizismus gern reaktualisiert sähe?

Pound und Lewis

Ezra Pound und Wyndham Lewis trafen 1909 in London aufeinander. Der in Kanada geborene Lewis war in England aufgewachsen und hatte 1898 bis 1901 an der Slade School of Art in London Malerei studiert. Nach anschließenden ausführlichen Europareisen mit längeren Studien- und Arbeitsaufenthalten in Madrid, Holland, München und immer wieder Paris, kehrte er Ende 1908, 26jährig, nach London zurück. Der Amerikaner Pound war ebenfalls 1908, aus Italien kommend, in London eingetroffen. Seine akademische Ausbildung hatte er an der University of Pennsylvania und am Hamilton College im Staate New York erhalten, wo er offiziell Romanische Sprachen und Mittelalterliche Literatur studierte, tatsächlich aber die unterschiedlichsten Fächer belegte und sein großes Interesse für Dichtung entwickelte. Die Arbeit an einer Dissertation gab er zugunsten einer Romanistik-Dozentur an einem kleinen College in Indiana auf, wo sein Vertrag allerdings bereits nach vier Monaten wegen ›unmoralischen Verhaltens‹[4] wieder aufgelöst wurde. Daraufhin schiffte er sich im Februar 1908 nach Europa ein, das er als Junge mehrfach mit seiner Tante, seinen Eltern und mit Hilfe eines Stipendiums bereist hatte. Er schlug sich als Dolmetscher und Reiseführer durch, lebte mehrere Monate in Venedig, veröffentlichte dort auf eigene Kosten seinen ersten Gedichtband und brach im September Richtung England auf. 1913 schrieb er über die dortige Ankunft: »I came to London with £3 knowing no one. I had been hungry all my life for ›interesting people‹. I wanted to meet certain men whose work I admired.«[5]
Innerhalb kürzester Zeit gelingt es Pound, in die künstlerischen und literarischen Kreise Londons einzudringen, wo er bald, vermittelt durch gemeinsame Bekannte, Lewis kennenlernt. Dieser erinnert sich an das erste Zusammentreffen mit dem 23jährigen ungestümen Literaten:

    On the first two occasions on which we met I did not speak to him: on the second occasion he addressed a few remarks to me, but I did not reply. I did not consider it necessary to do so, as he seemed in fact to be addressing somebody else. I mean that what he said did not appear to be appropriate, or to have any relevance -- as a remark addressed to me.[6]
Mit der englischen ›Angemessenheit‹ hatte es Pound schwer. Er war immer etwas zu leidenschaftlich, etwas zu aufbrausend und etwas zu überschwenglich, ja oft geradezu manisch. Hinter diesem Auftreten verbarg sich sein enthusiastischer Idealismus, seine Kompromißlosigkeit in allem, was Kunst und insbesondere Poesie und Poetik betraf, sein scharfer Verstand, sein unbändiges Interesse an jeder Art von Wissen und intellektuellem Austausch. Diesen übergroßen Reichtum Pounds erkannte denn auch Lewis nach den ersten mißglückten Treffen: »The third time«, schreibt er, »I answered the hail.« Es war ein Ruf unter die Flagge einer neuen Kunst, ein Ruf an Bord
    a bombastic galleon, palpably bound to, or from, the Spanish Main. I thought I had better do so, since we were always meeting, and going on board, I discovered beneath its skull and cross-bones, intertwined with fleur de lys and spattered with preposterous starspangled oddities, a heart of gold. [7]
Sie waren sich auf eine bestimmte Weise sehr ähnlich -- Pound und Lewis: beide begabt, ambitioniert, energisch, selbstbewußt, beide Rebellen, die gegen den etablierten Kunstbetrieb kämpften, beide Selbstdarsteller und Exzentriker: »in clothes, hairdressing and manner neither made a secret of their calling«[8], Pound als »cartoon of the salon artist, beard, earring, green velvet, Lewis the black-hatted anarchist in a cape, obviously a ›genius‹«[9]. Nachdem die erste Brücke geschlagen war, blieben Lewis und Pound in Kontakt, verkehrten in ähnlichen Kreisen, diskutierten miteinander und begannen mehr und mehr, die Möglichkeit gemeinsamer Projekte in Betracht zu ziehen.

 

Anfänge einer Englischen Moderne und die Omega Workshops

In London, wie überall im Europa der 1910er Jahre war die Kunst im Umbruch, es brodelte an allen Ecken, der Kubismus aus Paris und die Futuristen aus Mailand begannen an Einfluß zu gewinnen. Eine der ersten wichtigen Londoner Gruppierungen eines radikalen ›Post-Impressionismus‹ -- von Roger Fry selbst so benannt -- waren die von dem Kunstkritiker und Alliierten der bekannten Bloomsbury Group, Fry, im Juli 1913 gegründeten Omega Workshops. In ihnen sollten Künstler für eine (geringe) Tagesgage handwerkliche Objekte, Geschirr, Mobiliar, Stoffe usw. herstellen und gestalten, die anschließend als Produkte der Workshops verkauft wurden.
Lewis und die mit ihm befreundeten Maler Cuthbert Hamilton, Edward Wadsworth, Frederick Etchells und William Roberts verließen Fry im Oktober unter großem Getöse, weil sie sich, nicht ganz unberechtigt, von ihm bevormundet und übervorteilt fühlten. Eine Petition listete alle Vorwürfe gegen Fry auf, dessen Werkstätten Lewis nach dem Bruch nur noch als »Mr. Fry's curtain and pincushion factory«[10] bezeichnete. Der Aufruhr führte unter anderem zum vollständigen Zerwürfnis zwischen Lewis und allen Bloomsburies, in Anbetracht von deren Einfluß auf die Londoner Kunstwelt durchaus zum Nachteil der späteren Karriere Lewis`.
Ab dem Moment dieser Trennung träumte Lewis davon, seine eigene Gruppe zu gründen, deren Kopf natürlich er selbst sein wollte. Seine Malerfreunde, selbst Individualisten durch und durch, waren jedoch zumal nach der schlechten Erfahrung mit Roger Fry nicht bereit, Lewis als Anführer zu akzeptieren.

 

Das Projekt Blast und das Rebel Art Centre

Lewis, ein unermüdlicher Arbeiter an der eigenen künstlerischen Karriere, plante als nächstes großes Projekt die Herausgabe einer Kunstzeitschrift, die schließlich im Juli 1914 erscheinen sollte. Als Titel der Zeitschrift hat augenscheinlich der Maler Christopher Nevinson bereits Ende des Jahres 1913 den Namen Blast aufgebracht. Lewis war damit nicht vollständig glücklich und diskutierte mit avisierten Kontributoren des Journals andere Optionen. Am 17. Dezember 1913 schrieb Wadsworth an Lewis:

    I have not been able to think of another name for Blast and I am not convinced yet really that Blast is bad ... In any case I don't think we ought to change the name unless for something better.[11]
Lewis selbst verfolgte nach wie vor sein heimliches Ziel, nach dem Pariser oder Mailänder Vorbild eine Bewegung unter dem Label eines »..ismus« zu gründen. Auf einem Zettel, der sich in seinem Nachlaß findet, hat er handschriftlich notiert: »Blast - the bimonthly organ of Blasticism«[12]. Ob es an der Kuriosität eines solchen Namens lag oder daran, daß er von seinen Kollegen nach wie vor Ablehnung befürchtete -- Lewis behielt diese Idee für sich.
Die Konzeption der Zeitschrift schritt schleppend voran. Im März 1914 schreibt Ezra Pound an seine Verlobte Dorothy Shakespear, daß Lewis ihn besucht habe und »has gone off with eleven nice blasty poems of mine« für seine »revue cubiste«. Blast ein Kubistenjournal? Darüber hinaus berichtet Pound davon, daß Lewis »has taken a ›school‹ -- a nice floor in London, W.C.«[13] Die ›Schule‹ war Teil des Rebel Art Centres, das Lewis inzwischen mit finanzieller Unterstützung der Malerin Kate Lechmere als Konkurrenz zu den Omega Workshops gegründet hatte. Projektiert waren Ateliers, Platz für Ausstellungen, Vorträge und sonstige Zusammentreffen von Künstlern und jene Schule, über die es in einem Ankündigungsschreiben heißt, sie sei »set out to provide young painters with ›something like the natural teaching of the artists‹ studios during the best periods of European art«[14]. In den kaum vier Monaten seines Bestehens fand sich kein einziger ernsthafter Schüler ein. Die Arbeit im Zentrum bestand fast ausschließlich darin, die Zeitschrift Blast zu produzieren und Kate Lechmere zeigte sich enttäuscht, daß nicht mehr Kunstwerke geschaffen wurden. Als auch noch persönliche Schwierigkeiten zwischen ihr und Lewis hinzukamen, erklärte sie sich außerstande, weiterhin die Miete für die Räume zu zahlen, woraufhin das Centre im Juni 1914 bereits wieder geschlossen wurde.

 

Londoner Futurismus

Unter den Referenten, die im Rebel Art Centre in der kurzen Zeit seiner Existenz Vorträge hielten, war im Mai 1914 der italienische Futurist Filippo Tommaso Marinetti, der damals häufig in London weilte und dem direkt und indirekt ein gewisser Anteil an der Entstehung des Vortizismus gebührt. Marinetti und seine futuristischen Freunde erregten mit ihren propagandistischen Auftritten, die sie bereits seit 1910 auch in London zelebrierten, viel Aufsehen und übten einen großen Einfluß auf junge rebellische englische Künstler, wie Lewis und seine Mitstreiter aus. Noch 1915 und trotz aller zwischenzeitlichen Zerwürfnisse schrieb Wyndham Lewis: »We applaud the vivacity and high-spirits of the Italian Futurists.«[15] Auch Blast, dessen Veröffentlichung sich wohl zum größten Teil aus Unerfahrenheit des Herausgebers immer weiter verzögerte, kann insofern in der Tradition futuristischer Druckwerke gesehen werden, wenn auch grundlegende Differenzen zwischen beiden Bewegungen nicht außer Acht gelassen werden dürfen.
Im April 1914 schrieb Lewis an Etchells: »In two weeks Blast will positively appear.«[16] Jedoch die Veröffentlichung ließ auf sich warten. Möglicherweise hatte auch die Suche nach einem noch aussagekräftigeren Namen Anteil an dieser Verzögerung. In der Anzeige für Blast, am 15. April 1914 in The Egoist abgedruckt und das Erscheinen für Ende des Monats ankündigend, gibt es noch keinen Hinweis auf den Namen Vortizismus. Statt dessen wird die Zeitschrift als Forum zur »Discussion of Cubism, Futurism, Imagisme and all Vital Forms of Modern Art« avisiert.[17] So, wie Pound sie ebenfalls im April in einem Brief an James Joyce beschreibt: »Lewis is starting a new Futurist, Cubist, Imagiste Quarterly, [...] I cant tell, it is mostly a painters magazine with me to do the poems.«[18] Pound scheint in die Aktivitäten um Blast nicht besonders involviert zu sein. Im Mai schreibt Lewis an eine Freundin: »As to Blast, [...] Two to three weeks will see it set up and ready to produce.«[19] Die Frage nach einem anderen Namen war offenbar wieder fallen gelassen worden. Es schien, als bliebe es bei Blast und als ließe sich Lewis` Traum von der Führung einer Bewegung nicht verwirklichen, bis eine weitere Aktion Marinettis in London die gesamte Situation veränderte.
Wie immer auch von futuristischen Ideen und Praktiken beeindruckt und beeinflußt, -- es mißfiel den englischen Künstlern ganz offensichtlich das arrogante Auftreten Marinettis. Auf eine bestimmte Weise beneideten ihn die meisten vermutlich um seinen Erfolg, hielten ihn aber zugleich für einen Scharlatan. Sich ihm direkt anzuschließen, kam außer Christopher Nevinson keinem in den Sinn. Lewis war es, der immer wieder die Überlegenheit des nordischen Englands über den romantizistischen Süden betonte: »England practically invented this civilisation that Signor Marinetti has come to preach to us about«[20], schrieb er im Juni 1914 in einem Zeitungsartikel. Die in jenem Artikel geäußerte Empörung folgte indessen einem konkreten Anlaß.
Anfang Juni 1914, nur wenige Tage nach seinem Auftritt im Rebel Art Centre, hatte Marinetti versucht, die jungen Londoner Künstler als ›Englische Futuristen‹ zu vereinnahmen. Im Wissen um Lewis` geplante Zeitschrift, deren Erscheinen schon mehrfach angekündigt war, ließ Marinetti erkennen, daß er alles, was da kommen möge, schon im Vorhinein mit dem Stempel ›Futurismus‹ versehen wolle, um es unter seine Dominanz zu bringen. Er veröffentlichte am 7. Juni 1914 ein futuristisches Manifest für eine ›Vital English Art‹ und setzte ungefragt die Adresse des Rebel Art Centres sowie neben seinem eigenen die Namen diverser Künstler, die mit dem Zentrum assoziiert waren, als Absender darunter.
Marinetti erreichte mit dieser Aktion das Gegenteil dessen, was er angestrebt hatte. Mit einem Aufschrei der Empörung distanzierten sich die englischen Rebellen von seinem Vorstoß. Auf Marinettis Manifest reagierten sie eine Woche später, am 14. Juni, mit der Veröffentlichung einer Gegendarstellung. Bereits am 12. des Monats hatte Lewis »a determined band of miscellaneous anti-futurists«[21] um sich versammelt, die die Veranstaltung, auf der Marinetti den englischen Futurismus proklamierte, in einer Art ›counter-putsch‹ sprengte. Bei dieser Gelegenheit gaben sich die Störer zum ersten Mal den Namen ›Vortizisten‹ und die englische Presse war fast noch schneller als die Vortizisten selbst, ihre Existenz zu verkünden. Am 15. Juni schrieb der Yorkshire Observer: »Futurism in this country has hardly been born before it has budded of into Vorticism.«[22] Plötzlich war der lange gesuchte Name gefunden.
So war auch Lewis` Stunde gekommen. Die englischen Kunst-Rebellen, um sich und ihre Kunstkonzepte unmißverständlich von den Futuristen abzusetzen, sie vor Fremdbestimmungen zu schützen, akzeptierten sogar, daß Lewis in dieser neuen Gegenbewegung die Führung übernahm. Lewis` Freund, der Dichter und Theoretiker Ezra Pound, unterstützt ihn darin nach Kräften und erklärt am 15. Juni im Egoist: »we have in Mr Lewis our most articulate voice. And we will sweep out the past century as surely as Attila swept across Europe.«[23] Pound hatte allen Grund, diese Bewegung zu unterstützen, denn sie trug ab sofort seinen Namen. Vortizismus war der Name, der die propagandistische Lücke der Selbstbehauptung der englischen Kunst füllte, nachdem sie durch Marinettis Aktion umso deutlicher aufgezeigt worden war. Was wäre Lewis am Kopf einer neuen Künstlerbewegung ohne einen Namen gewesen? Die Künstlergruppe wollte und mußte sich eindeutig von den Futuristen abgrenzen und dies war nur möglich mit einem Namen, der individueller war, als sich einfach nur Rebellen oder gar Anti-Futuristen zu nennen.
Der originäre Name für die Gruppe kam von Pound. Taufte er damit die durchaus heterogene Bewegung nach dem wirbelnden Vortex, als den er London -- die Künstlerszene, das Kunstklima der Stadt -- schon 1913 beschrieben hatte[24]? Oder nach jenem Vortex, den er in einem Brief an seine Verlobte Dorothy Shakespear als zentral für jedes künstlerische Schaffen bezeichnet hatte: »Energy depends on ones ability to make a vortex--genius même«[25]? Lewis, wenn auch anerkannter Kopf der Gruppe, hat jedenfalls niemals Urheberschaftsansprüche für diesen Namen angemeldet, vielmehr gibt er unumwunden zu: »It was Pound who invented the word ›vorticist‹«[26] und William Roberts bestätigt, daß diese Erfindung »in that fateful month of June 1914« stattfand und sofort allgemein akzeptiert wurde.[27] Auf diese Weise konnte Blast in wahrhaft letzter Sekunde zur ›Review of the Great English Vortex‹ werden. Ohne offensichtlich danach zu fragen, wieso Pound gerade diese Bezeichnung für sie wählte, eignen sich die Vortizisten ihren Namen an und deuten ihn nach Belieben aus. Was aber waren Pounds Gründe für seine Namenswahl? Der Antwort auf diese Frage soll in dieser Arbeit nachgegangen werden.

 

 

Vortizismus

Die Künstler, die heute unter der Bezeichnung Vortizisten genannt werden, waren eine bei weitem disparatere Gruppe als die Futuristen, wenn erstere sich denn überhaupt je als eine irgendwie homogen agierende Gruppe verstanden haben, was aus heutiger Sicht durchaus zweifelhaft erscheint. Die Londoner Vortizisten setzten sich hauptsächlich aus den Assoziierten des Rebel Art Centres zusammen, wobei es auch dabei schon schwerfällt, zu bestimmen, wo die Grenze zwischen den eigentlichen ›Aktivisten‹ und bloßen Sympathisanten verlief. Zumindest gab es keinerlei formale Mitgliedschaft, weder im Rebel Art Centre noch bei den Vortizisten. Der Herausgeber eines der umfangreichsten Lewis-Kataloge, Walter Michel, entschied sich für folgende Grenzziehung: »I reserve the term Vorticist for painters close to Blast and the Rebel Art Centre who, when offered a choice, elected to exhibit as ›Vorticists‹.«[28] Michel beschränkt sich auf Maler, wobei sicher ist, daß Pound und Gaudier-Brzeska als Dichter und Bildhauer auf jeden Fall hinzuzuzählen wären. Schließlich gab es nur eine einzige tatsächlich vortizistische Ausstellung im Juni 1915. Andere gemeinsame Aktionen oder Auftritte im Stile der Futuristen fanden praktisch nicht statt; jeder arbeitete individuell, gemeinsam wurden höchstens die fertigen Werke präsentiert. Die Ablehnung von kollektiver Arbeit führte so weit, daß Lewis seine Bilder bis zum Tag der Ausstellungseröffnung unter Verschluß hielt, aus Angst, kopiert zu werden.[29]
Der Stil der vortizistischen Maler und Bildhauer war wesentlich vom Kubismus geprägt. Die Ausdrucksformen ihrer Veröffentlichung Blast dagegen konnten den futuristischen Einfluß nicht verleugnen und Lewis imitierte in seinem Auftreten als Kopf der Gruppe mehr oder minder deutlich deren Anführer Marinetti (der genau deshalb zu seinem Erzrivalen wurde), weil er sich gleichsam als ›eigentlicher‹ Futurist fühlte. Der künstlerische Vorwurf der Vortizisten gegen die Futuristen bezog sich nämlich vor allem darauf, daß die Italiener zwar ihre Themen aus dem Bereich der Technik und des modernen Lebens wählten, jedoch bei der künstlerischen Sprache des Impressionismus blieben. Für Pound war Futurismus nicht mehr als eine »accelerated sort of impressionism«[30], wogegen die Vortizisten daran interessiert waren, eine neue formale Sprache zu entwickeln, die den ›Geist‹ der Moderne und des Maschinenzeitalters zum Ausdruck bringen würde. Die thematischen Inhalte der Kunstwerke konnten nach dieser Auffassung unabhängig von einer akuten Aktualität gewählt werden, die formale Darstellung mußte dagegen neu und überraschend sein.

 

Blast 1 erscheint

Blast 1, diese erste Nummer der großformatigen Zeitschrift, die insgesamt nur zweimal erscheinen sollte, hatte einen leuchtend rosaroten Umschlag, auf dem schräg von links oben nach rechts unten in dicken schwarzen Blocklettern, die Seite füllend, einzig der Name »BLAST« zu lesen war.

Titel der ersten Nummer der Zeitschrift BLAST

Schon in dieser äußeren Gestaltung stellte sie eine Provokation dar. Dazu war der Titel Blast in seinem Bedeutungsumfang von ›sprengen, verfluchen, verdammen‹ darauf ausgerichtet, Empörung hervorzurufen. Aber er enthielt auch eine indirekte Referenz auf die Hochöfen [blast furnace] des industriellen Englands, das die Vortizisten in ihren Manifesten so herausstellen sollten.
Blast 1 enthielt, ganz in futuristischer Manier, zur Positionierung ein Manifest. Genau besehen sind es zwei Manifeste, oder, wenn man den programmatischen Anfangstext »Long Live the Vortex!« mitzählt, sogar drei. Alle verfaßt von Wyndham Lewis, waren sie von elf Personen unterzeichnet worden: den Dichtern Richard Aldington und Ezra Pound, dem Fotografen Malcolm Arbuthnot, dem Bildhauer Henri Gaudier-Brzeska, den Malerinnen Jessica Dismorr und Helen Saunders[31] und den Malern Lawrence Atkinson, Cuthbert Hamilton, William Roberts, Edward Wadsworth sowie natürlich Lewis selbst. Die Dominanz bildender Künstler und besonders Maler ist unübersehbar.
Daß Blast inklusive der Ausarbeitung der Manifeste vor allem ein Werk Lewis` war, steht außer Zweifel. Die unsignierten Texte können mit hoher Sicherheit als von Lewis geschrieben angenommen werden. Darüber ist sich die Forschungsliteratur einig. Die Unterzeichner des vortizistischen Manifests waren zum großen Teil dieselben, die kurz zuvor die Entgegnung auf Marinettis Manifest Vital English Art. Futurist Manifesto unterschrieben hatten und sie wurden offensichtlich nicht extra noch einmal gefragt. William Roberts:

    if anyone were to imagine we signed this Manifesto, pen in hand, in solemn assembly, they would be making a big mistake. I, in fact, personally signed nothing. The first knowledge I had of a Vorticist Manifesto's existence was when Lewis, one fine Sunday morning in the Summer of 1914, knocked at my door and placed in my hands this chubby, rosy, problem-child Blast.[32]
Zumindest der Maler William Roberts war also ein ›Vortizist‹, der den unmittelbaren Enthusiasmus über das Erscheinen von Blast nicht recht teilen konnte. Jedoch ein anderer, neu hinzugekommener Unterzeichner, der Dichter und Freund Ezra Pounds Richard Aldington, schreibt in The Egoist am 15. Juli 1914: »Mr Lewis has carefully and wittily compiled a series of manifestos to which we have all gleefully set our names.«[33] So oder so, es finden sich elf Signaturen im Anschluß an die von Lewis geschriebenen Manifeste und die Auswahl war zumindest mit so viel Vorsicht getroffen worden, daß sich keiner der Unterzeichner lauthals davon distanzierte, wie es vorher bei Marinetti geschehen war. Daß Blast aber vor allem Lewis` Werk war, erinnert auch eine der vortizistischen Frauen, Helen Saunders; sie schrieb 1962 in einem Brief an Walter Michel, den Herausgeber der großen Lewis-Monographie:
    You are I am sure right in thinking that Lewis was to all intents and purposes Blast and carried the rest of the team with him, some from conviction and some no doubt for their own purposes of advertisement.[34]
Die Künstler waren offensichtlich bereit, unter der Flagge einer genuin englischen Kunstbewegung, für die der Vortizismus mit seinem Namen stand, mitzufahren, selbst wenn man sich mit Lewis in der Dominanz und Arroganz seines Auftretens praktisch einen zweiten Marinetti einhandelte. Die Betonung der nationalen englischen Prägung des Vortizismus, die sich als Abgrenzung gegenüber italienischem Futurismus, französischem Kubismus und deutschem Expressionismus exponieren wollte, fiel im Vorkriegs-England von 1914 auch beim Publikum auf fruchtbaren Boden. Kurios daran ist nur, daß die aktivsten Vortizisten fast alle Ausländer waren, wie Lewis als Halb-Kanadier, Pound als Amerikaner, Gaudier-Brzeska als Franzose. In seinem künstlerischen und kunsttheoretischen Inhalt war Blast für die meisten Künstler insofern akzeptabel, als Lewis sich kaum darüber ausließ, was und wie Vortizismus sein sollte, sondern im wesentlichen schreibt, wie er nicht sein soll, nämlich vor allem keinesfalls futuristisch. Mit seinen Attacken gegen den Futurismus sind fast alle einverstanden, in diesem ›Feindbild‹ wurde man sich einig.

 

Auftritt Vortex

Die zentrale Bedeutung Wyndham Lewis` für die Bewegung des Vortizismus als solche bestätigt Pound noch 1956 in einem Brief an eine Freundin:

    W.L. certainly made vorticism. To him alone we owe the existence of Blast. It is true that he started by wanting a forum for the several ACTIVE varieties of CONTEMPORARY art/cub/expressionist/post-imp etc.
Er ist sich jedoch auch seines eigenen Anteils sehr bewußt und benennt schließlich die drei Künstler, die er für die eigentlichen Vortizisten hält:
    BUT in conversation with E.P. there emerged the idea of defining what WE wanted & having a name for it.
    Ultimately Gaudier for sculpture, E.P. for poetry, and W.L., the main mover, set down their personal requirements.
    [35]
Lewis, Pound und Gaudier-Brzeska waren also in Pounds Wahrnehmung die Stützpfeiler, die mit der Entwicklung des Vortizismus ihre ›persönlichen Bedürfnisse‹ in der künstlerischen Arbeit formulierten. Sie waren es zumindest gewesen, die Blast 1 zur ›Review of the Great English Vortex‹ machten, indem sie zudem -- im sprichwörtlichen letzten Moment -- jeweils noch schnell einen Text zum Vortex schrieben.
Daß der Name Vortizismus praktisch in letzter Sekunde aufkam, als Teile des Heftes höchstwahrscheinlich schon gedruckt oder zumindest im Layout fertiggestellt waren, wird an mehreren Stellen in Blast 1 deutlich. In den beiden Manifesten, die die Zeitschrift -- ganz in futuristischer Manier -- enthielt, ist keine Rede vom Vortex, statt dessen sind vor diese Manifeste anderthalb Seiten Text unter der Überschrift ›Long Live the Vortex!‹ ohne Paginierung eingefügt. Der erste Satz dieser ebenfalls manifestartigen Schrift demonstriert die Plötzlichkeit der Namensfindung: »Long live the great art vortex sprung up in the centre of this town!«[36] Wie aus dem Nichts kommend, über Nacht aufgetaucht, so scheint es, kam der Vortex in die Welt der Kunst. Außer in diesen nicht ganz zwei vorangestellten Seiten, sowie in den drei Positionspapieren Our Vortex von Lewis, Vortex, Pound und Vortex Gaudier-Brzeska ziemlich weit am Ende des Heftes, was insgesamt nur 10 von 150 Seiten des Heftes ausmacht, kommt der Begriff in Blast 1 nicht weiter vor. In einem Text thematisiert Lewis sogar noch die Begriffslosigkeit, die fehlende Bezeichnung für die Art von englischer Kunst, die zwar teilweise dem Futurismus nahesteht, sich aber gleichzeitig wesentlich von ihm unterscheidet. »We may hope before long to find a new word«[37], schreibt er in Blast 1 unter der Überschrift The Melodrama of Modernity, obwohl inzwischen das ›new word‹ längst gefunden war.
Was ist nun aber die große Differenz zum Futurismus? Wie bereits angedeutet, geht es den Vortizisten um eine formale Neugestaltung der Kunst, im Gegensatz zur vorrangigen Besetzung von neuen Themen durch die Futuristen. Lewis beleuchtet den für ihn entscheidendsten Aspekt der Abgrenzung vom Futurismus am deutlichsten im Nachhinein, nämlich in seiner Autobiographie von 1937, in der Erinnerung an ein Gespräch mit Marinetti. Als ihn der Italiener zum Futuristen erklären will bzw. ihn fragt, wieso er sich nicht einfach als einer bezeichne, da er es doch sei, wehrt Lewis sich mit der Entgegnung: »You Wops insist too much on the Machine [...] We've had machines here in England for a donkey's years. They're no novelty to us.« Marinettis Einwand, daß die Engländer aber ihre Maschinen nie verstanden hätten, überhört Lewis geflissentlich und die Schwärmerei vom Nervenkitzel der Geschwindigkeit beantwortet er mit unmißverständlichem Abscheu: »I loathe anything that goes too quickly. If it goes too quickly, it is not there.« Er fügt ein Baudelaire-Zitat an, das der Futurist Boccioni gerade in einem Buch attackiert hatte: »Je hais le mouvement qui déplace les lignes.«[38] Diesem von Baudelaire indirekt formulierten Ideal zu folgen, das dem futuristischen Geschwindigkeitsrausch diametral entgegen steht, wird zur zentralen Behauptung der Vortizisten. Sie dementieren ganz und gar nicht, wie bestimmt die moderne Welt von den anwachsenden technischen Geschwindigkeiten ist. Ein vortizistischer Künstler jedoch läßt sich nicht von ihnen hinwegreißen, sondern beobachtet aus einer ruhigen Position. Denn:
    The Vorticist is at his maximum point of energy when stillest.
    The Vorticist is not the Slave of Commotion, but it's Master.
    [39]
Demzufolge dominieren in der vortizistischen Kunst klare Linien, geometrische Formen, eine Huldigung an die neue Maschinen-Natur, die im Gegensatz zur ›alten‹ organischen Natur das moderne Leben bestimmt. Der mit den Vortizisten lose assoziierte T. E. Hulme schrieb über die Vortizisten, ohne ihren Namen zu nennen:
    There is a desire among modern artists to avoid those lines and surfaces which look pleasing and organic, and to use lines which are clean, clear-cut and mechanical. You will find artists expressing admiration for engineer's drawings, where the lines are clean, the curves all geometrical, and the colour, laid on to show the shape of a cylinder for example, gradated absolutely mechanically. [40]
Pound, in seinem Artikel über Lewis vom 15. Juni 1914, bringt ein weiteres Argument für die Abgrenzung der beiden Kunstströmungen Vortizismus und Futurismus. Was nach Pounds Ansicht die Vortizisten inhaltlich von den Futuristen unterscheidet, ist »the respect which we feel for great artists who expressed the life of their times in the past. This is not futurism. The futurists are evidently ignorant of tradition.«[41] An dieser Stelle zeichnet sich eine Differenz ab: für Lewis und Pound liegt die Signifikanz des Vortizismus an durchaus unterschiedlichen Punkten. Das deutliche Bekenntnis zur Historizität von Kunst, gar eine Hochachtung vor der Tradition, hätte Lewis nicht ohne weiteres unterschrieben. Ganz im Gegenteil, er mokiert sich später sogar über »Pound's antiquarian and romantic tendencies«[42].
Walter Michel konstatiert, daß es offensichtlich einen Lewis`schen Vortizismus gegeben habe, der darin bestand, daß Lewis mehr oder minder behauptete: Vortizismus ist, was ich tue. Daneben gab es das, was man als die vortizistische Bewegung bezeichnen könnte, nämlich all die anderen Künstler, die sich mit unter die Fahne Vortizismus stellten oder stellen ließen und schließlich, davon nahezu unabhängig, gab es den Vortizismus Ezra Pounds.[43] Es liegt an diesen unterschiedlichen Auffassungen vom Vortizismus, daß bis zum heutigen Tage »it's aesthetic principles have remained blurred«[44]. Durchaus fraglich bleibt, ob eine für alle diese Künstler mit ihren so unterschiedlichen Werken und Interessen gemeinsame und also verbindende Bezeichnung als Vortizisten rückblickend überhaupt gerechtfertigt war.

 

Die vortizistischen Manifeste

Blast 1 enthält zwei von Lewis verfaßte Manifeste und einen manifestartigen vorangestellten Text zum Vortex, die alle zusammen in Form und Inhalt die Wucht der schon im Titel antizipierten ›Sprengung‹ verstärken. »We believe in no perfectibility except our own«[45], heißt es in Long Live the Vortex! Dieser Programmtext ist, im Gegensatz zu den beiden auf ihn folgenden Manifesten, bei denen schon die Typographie schreiend ist, in einem annähernd normalen Satzspiegel geschrieben. Allerdings besteht er fast nur aus aktiven Hauptsätzen, die jeweils einen neuen Absatz bilden. Die ersten Sätze beginnen mit »We stand for... We want... We do not want... We are... We need...«. Lewis` vortizistische Ziele sind in diesem Text am wenigsten metaphorisiert formuliert, aber es zeigt sich auch, daß das Projekt nicht ohne Humor betrieben wird:

    We do not want to change the appearance of the world, because we [...] do not depend on the appearance of the world for our art. [...]
    Blast sets out to be an avenue for all those vivid and violent ideas that could reach the Public in no other way.
    Blast will be popular, essentially. [...] The moment a man feels or realizes himself as an artist, he ceases to belong to any milieu or time. Blast is created for this timeless, fundamental Artist that exists in everybody. [...]
    We want to make in England not a popular art, [...] but to make individuals, wherever found.
    We will convert the King if possible.
    A VORTICIST KING ! WHY NOT ? [...]
    Blast presents an art of Individuals.
Lewis proklamiert hier sowohl seine abstrakte Kunst, wie auch einen weitestgehenden Individualismus des Künstlers, der wohl der Hauptgrund für viele ›Vortizisten‹ war, ohne weiteres ihren Namen in Zusammenhang mit dieser Bewegung bringen zu lassen. Das äußerliche Erscheinungsbild der Welt, so die vortizistische Losung, ist irrelevant für eine Kunst, die erklärt, nicht mehr Repräsentation gegenständlicher Dinge sein zu wollen, sondern der es stattdessen darum geht, eine gegenstandsunabhängige Abbildung und Darstellung von Ideen und Idealisierungen zu leisten. Die künstlerische Praxis der Vortizisten blieb jedoch anfangs hinter diesem Anspruch zurück; nur sehr zögernd näherte man sich der reinen Abstraktion, die nur in wenigen Werken 1914 erreicht wurde, bevor der Krieg ihre Experimente abrupt abbrach. Bis dahin waren -- thematisch dann doch den Futuristen näher als ihre Programmatik es deklarierte -- anthropomorphe, roboterhafte Gestalten auf den vortizistischen Bildern ebenso zu finden, wie Gegenständliches aus den Themenbereichen Großstadt, Häfen, Industrie- und Maschinenwelt.
Auf diesen Programmtext Long live... folgt das erste als solches bezeichnete vortizistische Manifest. Es besteht aus einer teilweise ins Groteske gehenden Aufzählung von Begriffen, die nach dem Muster von Apollinaires L'Antitradizione Futurista[46] unter zwei Kategorien, hier BLAST bzw. BLESS, angeordnet sind. Als erstes, derart verdammt, aber auch gesegnet wird -- England. Verflucht wird es für sein mildes Klima, das »sins and infections« den Nährboden bietet. Des weiteren verflucht werden neben vielem anderen Frankreich, »the specialist, ›professional‹, ›good workman‹, ›grove-man‹, one organ man«, genauso wie »the amateur, sciolast, art-pimp, journalist, self man, no-organ man« oder der englische Humor, der für seine Dummheit und Verschlafenheit verdammt, wenige Seiten später allerdings als »great barbarous weapon« gesegnet wird. Auch Frankreich wird für seine Eleganz und seine Frauen gepriesen, England dagegen für Schiffe, Seeleute und Maschinen.
Lewis, der von Marinetti gelernt hatte, daß Lautstärke und Übertreibungen dazu angetan sind Gehör zu verschaffen, scheint in diesem Manifest darauf aus zu sein, »to enjoy himself and indulge his flair for outrageous verbal salvos«[47]. Andererseits tut er es auf seine englische Weise: »since there are two sides to every argument, you find me blessing what I had a moment before blasted. An example of English ›fairness!‹«[48]
Das zweite, siebenteilige Manifest verkündet im pluralis majestatis Lewis` Anspruch an die Kunst und die Ziele einer genuin englischen Kunstbewegung. Gerade weil England als »unmusical, anti-artistic, unphilosophic country« gelte, sei es der Ort, an dem »a movement towards art and imagination could burst up [...], from this lump of compressed life, with more force than anywhere else«. »Mr. Marinetti's limited imagination« und dem »miserable ›intellectual‹ [...] coming from Paris« wird die »unexpected universality [...] found in the completest English artists«[49] entgegengesetzt. Zur Begründung dient eine seltsame Nord-Süd-Mythologie, nach welcher »rebels of the North and the South are diametrically opposed species«. Die Nordländer, allen voran die Engländer, seien »the inventors of this bareness and hardness«[50], die Lewis` Auffassung von der Erneuerung der Kunst ausmachen. - Dies soll als knappe Darstellung der Lewis'schen Manifeste genügen um zu zeigen, mit welchen Positionen der Propagandist des Vortizismus an die Öffentlichkeit ging.

 

Es gibt keine Vortizisten?

Was war Vortizismus und wer war Vortizist? Bei der Beantwortung dieser Frage helfen die Manifeste nicht wirklich weiter und auch nicht der sonstige Inhalt von Blast 1. Abgesehen von den erwähnten Vortex-Artikeln und den Manifesten, die Lewis` Position präsentieren, enthält Blast 1 auch Beiträge anderer Künstler und Literaten, die bestenfalls einen mittelbaren Bezug zu einer Theorie des Vortizismus hatten. Ford Madox Hueffer und Rebecca West, die definitiv nicht als Vortizisten bezeichnet werden können, ließen jeweils Kurzgeschichten abdrucken. Der Maler Frederick Etchells, ein sehr enger Freund von Lewis, veröffentlichte seine Bilder in Blast, weigerte sich jedoch, das Manifest zu unterzeichnen:

    I got out of signing the manifesto because I was very cagey about the whole idea. I remember the terrific discussions we used to have: Lewis would talk and talk, and Wadsworth's wife used to say she could see me shrinking away from it all. I was never a willing captive for Lewis, despite our strong friendship, because I always thought Vorticism was a manufactured, faked movement.[51]

Vortizismus -- eine Pseudo-Bewegung? David Bomberg, der in vielen Katalogen als Vortizist gelistet wird[52], unterschrieb nicht nur nicht, sondern drohte Lewis mit einer Klage, falls dieser seine Bilder in Blast drucken würde. Auch Jacob Epstein, der Bildhauer, dessen Skulptur The Rock Drill (1913/14) oft als Emblem des Vortizismus gesehen wird, ließ zwar zwei seiner Zeichnungen in Blast 1 abdrucken, zeigte sich jedoch schon damals, und deutlicher noch rückblickend, mehr als distanziert. Er stellte zwar mit den Vortizisten aus, hatte sonst aber kaum etwas mit ihnen zu tun.
In seiner Autobiographie von 1940 erwähnt er weder Blast noch den Vortizismus. Im Kapitel Rock Drill: 1913-1914 bezeichnet er seine damalige experimentelle Arbeit als eine Periode der »extravagance and puerility«, wonach er »returned to a normal manner of working«[53]. Die in hohem Maße metaphorisch interpretierbare Zerstörung der Skulptur The Rock Drill[54], tut er ab mit der Bemerkung: »I lost my interest in machinery and discarded the drill.«[55]

Wyndham Lewis erwähnt er nur in einer Aufzählung von Gästen auf T. E. Hulmes Party. Die abstrakte Kunst des Vortizismus scheint für Epstein, wenn man sein Gesamtwerk betrachtet, ein kurzer vom Ersten Weltkrieg jäh abgebrochener Exkurs gewesen zu sein.
Von den Unterzeichnern des Manifests hat sich außer Gaudier-Brzeska, Lewis und Pound kaum jemand zum Vortizismus geäußert. Roberts, der von seiner Unterschrift erst erfuhr, als er das fertig gedruckte Heft in der Hand hielt, malte in den sechziger Jahren ein stilisiertes nostalgisches Bild, dem formal der Vortizismus nicht mehr anzusehen ist The Vorticists at the Restaurant de la Tour Eiffel: Spring 1915.

The Vorticists at the Restaurant de la Tour Eiffel: Spring 1915. Gemaelde von William Roberts

Lewis, mit Schlapphut und Schal, thront im Zentrum, seine Dominanz in der Gruppe ist unübersehbar. Um ihn scharen sich am Tisch (von links): der Maler Cuthbert Hamilton, über den wenig mehr bekannt ist, als daß er das vortizistische Manifest unterzeichnete; rechts vor ihm Ezra Pound, der als hellste Gestalt in der Runde neben Lewis den zweiten Blickfang bietet; daneben, klein und fast verschüchtert wirkend, der Maler des Bildes selbst, William Roberts; auf der anderen Seite von Lewis, die erste Ausgabe Blast in der Hand haltend, Frederick Etchells, der sich ab den zwanziger Jahren der Architektur zuwandte; neben ihm Edward Wadsworth, Maler und Kandinsky-Übersetzer. Im Hintergrund links kommen, scheinbar verspätet, die beiden vortizistischen Frauen Helen Saunders und Jessica Dismorr zur Tür herein, beide zeitweilige Geliebte von Lewis. Etchells ist dabei, dafür fehlen die Manifest-Unterzeichner Aldington, Arbuthnot, Atkinson und vor allem Gaudier-Brzeska. Es ist eine subjektive Auswahl. Der Maler Roberts erinnert sich nur an die vortizistischen Maler, und natürlich Pound, denn der Namensgeber durfte nicht fehlen. Aber war somit der Vortizismus doch vor allem eine Maler-Bewegung?
Betrachten wir die Situation, die den Vortizismus hervorbrachte. Es gab zum einen Ezra Pound, der sich aus einem noch näher zu erläuternden Grund mit dem Vortex beschäftigte, der Kunsttheorien entwickelte und diese gern publik machen wollte. Zum anderen gab es Wyndham Lewis, der sich ebenfalls mit der Entwicklung seiner Kunst und Kunsttheorien beschäftigte, der aber vor allem »wanted to be top dog all the time«[56], wie Etchells ihn einschätzte. Darüber hinaus gab es mehrere junge Künstler und Literaten in London, die teilweise mit Lewis, teilweise mit Pound befreundet waren, von Kubismus, Futurismus und Expressionismus viel gelernt hatten, sich aber weder der einen noch der anderen Bewegung vollkommen anschließen bzw. unterordnen wollten. In dem Moment nun, da Marinetti ihnen gleichsam eine Vorlage gibt, begreifen sowohl Lewis wie Pound, daß sie diese Chance zur Verkündung ihrer eigenen Ideen nutzen können und müssen. Lewis hat eine Zeitschrift, die fast fertig ist, also innerhalb kürzester Zeit erscheinen kann; Pound hat einen Namen mit starker Symbolkraft. So ist es im ersten Moment nicht unbedingt zwingend, daß die Ziele der beiden Männer die gleichen sind. Es reicht, daß die Interessen beider darin übereinkommen, ein möglichst großes Publikum zu erreichen, und diese Gelegenheit bietet sich ihnen in dem Moment, wo sie Marinetti, der die Londoner Szene im Sinne der Radikalisierung der Kunst vorbereitet hat, mit ihrer eigenen Initiative überbieten können.
Von jener Störung der Futuristenversammlung, dem ›counter-putsch‹ vom 12. Juni 1914, berichtet eine italienische Zeitschrift unter der Überschrift: I VORTICISTI SORPASSANO IN AUDACIA I FUTURISTI. [Die Vortizisten übertreffen in ihrer Kühnheit die Futuristen.] Für die Futuristen grenzte der Vorfall, vor allem aber diese Berichterstattung an eine Blamage. James Joyce schickte den Artikel aus einer Triester Zeitung an Ezra Pound. Es heißt darin weiter:
    Is not life itself a vortex? Apparently it is, and having admitted that, it is natural that even art and literature should become vortices, absorbing in their spirals all the products of the human intellect. No rule, no measure, no special mark is necessary in order to be a vorticist painter or sculptor. The greatest, most absolute freedom is accorded the followers of the new theory. Let them do what they want, and how they want, provided that they produce something which has never been seen before now.[57]
Diese Art von Definition der vortizistischen Ziele, selbst wenn sie wohl eher ironisch gemeint war, hätte den meisten Rebellen sicher gefallen; der Sieg über das futuristische Dogma und an seiner Stelle die absolute künstlerische Freiheit -- wer hätte sich damit nicht identifizieren wollen? Pound kommentiert allerdings, daß es ihm ein vollkommenes Rätsel sei, »how all this nonsense ever got to Trieste«[58]. Wiederum allein die Tatsache, daß die Nachrichten vom Vortizismus so weit reisten, hätte den Londoner Künstlern Grund genug geboten, sich unter die Flagge der Vortizisten zu stellen und diese Publicity zur Vermarktung ihrer eigenen Werke zu nutzen.
Aber es waren durchaus nicht nur Irrtümer oder Kunstmarktinteressen, welche die Rebellen zustimmen ließen, nun Vortizisten zu sein. Lewis und Pound proklamierten auch Ideale, hinter die sich die Künstler stellen konnten und die Lewis in seiner zweiten Autobiographie Rude Assignment als Philosophie von Blast beschreibt: »It was more than just picture-making: one was manufacturing fresh eyes for people, and fresh souls to go with the eyes«[59]. Diese Vision mehr noch als jeder Stil war für die verschiedenen Künstler von Pound und Gaudier bis zu Epstein und Wadsworth so anziehend und mit der Veröffentlichung von Blast, »whose portentous dimensions, and violent tint did more than would a score of exhibitions to make the public feel that something was happening«[60], wurde die vortizistische Bewegung auch für Außenstehende zum Faszinosum. So, wie Ford Madox Hueffer, der sich trotz seiner Kurzgeschichte in Blast 1 niemals als Vortizist betrachtet hat, schrieb: »I am not at this moment engaged in appraising Blast as an achievement. But even to denizens of the stars it must be evident that Blast is an adventure, an exploration«.[61]
Es war im Wesentlichen das Abenteuer von Lewis und Pound, die ihren jeweils eigenen theoretischen Vortizismus kreierten und verbreiteten. Das Diner, das anläßlich des Erscheinens von Blast 1 veranstaltet wurde und welches nicht, wie Roberts mit seinem Bild fälschlich antizipiert, im Frühjahr 1915, sondern tatsächlich kurz nach der Publikation im Juli 1914 stattfand, diente in erster Linie dazu, den bis dahin in Ermangelung einer Gruppe fehlenden Gruppengeist zu erzeugen. Trotzdem bleiben Lewis und Pound (abgesehen von dem schon im Frühjahr 1915 gefallenen Henri Gaudier-Brzeska) die einzigen, die ihre tatsächlichen Standpunkte unter der Überschrift des Vortizismus kundtun. Lewis vertritt seine Position hauptsächlich in den beiden Blast-Heften, Pound schreibt auch in anderen Zeitschriften mehrere Artikel zum Vortizismus.

 


Vortex Gaudier-Brzeska - Vortex Lewis - Vortex Pound

An den drei kurzen Aufsätzen in Blast 1: Our Vortex von Lewis, Vortex, Pound und Vortex Gaudier-Brzeska, sieht man die unterschiedlichen Auffassungen über den Vortex deutlich. Walter Michel hat die Differenz in einem Satz sehr klar umrissen: »Pound links the symbol of the Vortex to his ideas of primary form; Gaudier uses it as the starting point for his magnificent survey of the art of sculpture; Lewis, in ›Our Vortex‹, makes much use of the name, but barely acknowledges the possibilities of the symbol.«[62]
Gaudier-Brzeska, dessen künstlerische Karriere der erste Weltkrieg beendete, noch bevor sie richtig angefangen hatte, soll hier nur kurz betrachtet werden. Wie Pound und Lewis war er nicht in England geboren, hatte in verschiedenen Städten Europas gelebt und studiert, und auch er war von einen »daemon of energy«[63] besessen. Er interessierte sich für unendlich viele Dinge, die damals en vogue waren, über die er sich aber ein selbst Pound in Erstaunen versetzendes präzises Wissen angeeignet hatte: »It might be exogamy, or the habits of primitive tribes, or the training of African warriors, or Chinese ideographs, or the disgusting ›mollesse‹ of metropolitan civilization, or abundant chaff, or aesthetics«, ein Gespräch darüber mit Gaudier endete in Pounds Erinnerung immer so, daß »you always felt that the subject of the conversation was exhausted, that there was nothing more to say, that you might read numerous and voluminous works and learn nothing more of importance«.[64] Dies schien umso erstaunlicher, als Gaudier noch deutlich jünger als der durchaus jugendliche Pound war. Als Henri Gaudier-Brzeska 1915 an der deutsch-französischen Front in Neuville-Saint-Vaast fiel, war er gerade 23 Jahre alt. Sein Vortex-Begriff aber hat mit dem der anderen kaum etwas gemein, für ihn, den jungen französischen Bildhauer, der seinem eigentlichen Namen Gaudier den Namen seiner polnischen Lebensgefährtin angehängt hatte, war die Skulptur das Maß aller Dinge.
Auf den nur reichlich drei Seiten seines Vortex-Artikels[65] schreibt er eine Art Kulturgeschichte des Skulpturalen, in großen Bögen, vom »PALEOLITHIC VORTEX« der ersten Steinschnitzereien, die in Höhlen gefunden wurden, über den »HAMITE VORTEX of Egypt« bis zum »SEMITIC VORTEX«, aus dem seiner Darstellung nach die neuzeitliche Architektur und Plastik entstand. »Sculptural feeling is the appreciation of masses in relation«, schreibt er, und

    we have made a combination of all the possible shaped masses -- concentrating them to express our abstract thoughts of conscious superiority.
        Will and consciousness are our
                                                       VORTEX.
Gaudier-Brzeska benutzt den Vortex als Metapher für besonders herausragende Entwicklungsstufen der Plastik, für eine universale künstlerische Qualität, die er in und mit seiner Kunst erreichen will, deutlich wird auch bei ihm die vortizistische Betonung der Form. Der Vortex markiert für Gaudier das Absolute und er bezieht sich auf das Bild eines Strudels, wenn er schreibt: »its mass is the POINTED CONE«. Massen, Flächen und Energie sind seine Ausdrucksmittel.
Lewis hingegen bricht in seinem Text zu allererst mit jeglicher Vergangenheit, sich damit sowohl von Pound wie von Gaudier unterscheidend und in diesem Punkt an Marinetti anschließend: »Our vortex is not afraid of the Past : it has forgotten it's existence.«[66] Die von den Futuristen glorifizierte Zukunft erklärt er allerdings sofort für genauso sentimental wie die Vergangenheit, beide sollten aber dennoch jeweils als Elemente erhalten bleiben, »the Past to mop up our melancholy, the Future to absorb our troublesome optimism«. Kunst existiere jedoch nur in der Gegenwart: »With our Vortex the Present is the only active thing.« Ebenso sei aber alle Gegenwart Kunst: »There is no Present -- there is Past and Future, and there is Art«. Lewis jongliert mit dem Begriff ›Vortex‹, bezieht sich auf das Bild eines Wirbels bzw. Strudels nur insofern, als er die Stille im Zentrum als den Ort des Vortizisten definiert, der sich von aller Bewegung um ihn her nicht mitreißen läßt, sondern sie beherrscht: »He lets Life know its place in a Vorticist Universe ! [...] There is one Truth, ourselves, and everything is permitted.«
In den beiden Texten von Gaudier-Brzeska und Lewis fungiert Vortex als ebenso willkommene wie überladene Wortfigur. Der Vortex wird zum metaphorischen Wirbel überhöht, wie man ihn sich in einer Stromschnelle oder einer Windhose vorstellen kann, ein Wirbel, der Material und Energie aus seiner Umgebung saugt, dabei das Alte vernichtet und zu etwas Neuem, Einzigartigem verarbeitet. Es ist ein Wirbel, der in seinem Zentrum, in dem sich die Vortizisten sehen, alle Energien konzentriert hat.
Pounds Vortex-Beschreibung[67] unterscheidet sich von all dem sehr deutlich und grundsätzlich. Wohl enthält sie ebenfalls die Pointe, daß »the vortex is the point of maximum energy« und daß »all experience rushes into this vortex«. Es scheint aber, als habe bei Pound der Vortex-Begriff von Beginn an mehr Struktur und Form, jenseits einer rein willkürlichen Wortwahl. Wenn Pound von ›seinem‹ Vortex spricht, referenziert er, der vortizistische Finder des Wortes, auf solch nüchterne Mechanismen und naturwissenschaftliche Termini wie »efficiency«, »mechanics« oder »fluid force«. Pounds Andeutungen beziehen sich auf Kräfte, Effizienz und Mechanik, also auf Physik. Parallel dazu benennt er das »primary pigment« als dasjenige, wovon ein Künstler in seinem wahren Künstlertum abhängt.
In der zeitgenössischen englischen Physik existierte ebenfalls der Begriff des Vortex, und zwar an zentraler Stelle der physikalischen Atom-Konzeption. Läßt sich also ein Zusammenhang finden zwischen dem ›Wirbel‹ und dem ›primary pigment‹, welches, in die Physik rückübersetzt, nichts anderes denn das Atom wäre? Die naturwissenschaftliche Metaphorik in Pounds Blast/Vortex-Manifest gibt Anlaß genug, dieser Frage im folgenden nachzugehen.

 

Herkunft des Vortex

Woher kommt der Begriff Vortex? Daß Pound ihn vorschlug und er von den verschiedenen Akteuren des Vortizismus auf die unterschiedlichste Weise verstanden wurde, haben wir gesehen. Die Vermutung eines physikalischen Ursprungs steht im Raum, doch wie kommt der Begriff in den poetischen und kunstprogrammatischen Diskurs Ezra Pounds?
Lewis schreibt 1956 im Zusammenhang mit einer Vortizisten-Retrospektive in der Londoner Tate Gallery:

    Vorticism. This name is an invention of Ezra Pound. ... What does this word mean? I do not know. How anyone can get angry about it, I cannot imagine, but let me say I did not ask for this meaningless word to be revived at the Tate.[68]
1956 ist der Vortizismus für Lewis bedeutungslos geworden, der Vortex war es möglicherweise schon immer. Wie für die meisten anderen Vortizisten ist für Lewis keine Bedeutung des Wortes Vortex interessant, außer derjenigen, die er als Vortizist gleichsam voluntaristisch erfindet. Für ihn ist es ein Propagandawort, das Assoziationen und Bilder zuläßt, mehr nicht. Anders Ezra Pound. Er hat den Namen gewählt und er weiß ganz augenscheinlich, woher er ihn nahm und warum. Nur verbirgt er seinen Lesern, wie so oft, die Quelle.
Diese Unklarheit führt dazu, daß fast alle Autoren, die über die Vortizisten schreiben, beginnen, entweder einsilbig oder phantasievoll zu werden, wenn es darum geht, die Herkunft des Vortex zu bestimmen. Viele halten auch die metaphorischen Bedeutungen des Wirbels für eine ausreichende Begründung der Namenswahl. Lewis` Biograph Jeffrey Meyers bemerkt, daß Pound »first used the Cartesian and Blakean word ›vortex‹ in his poem ›Plotinus‹ (1908)«[69], den Philosophen Descartes und den Dichter William Blake als mögliche Quellen suggerierend.
In einem Vorwort zum Katalog der Hayward Gallery über »Vorticism and its allies« von 1974 machte Richard Cork es sich leicht und behauptete einfach: »No wonder Pound thought of a vortex: the excitement was constant, intense, and not a little hysterical.«[70] Ein Jahr später, in seinem großen zweibändigen Vortizismus-Katalog widmet er der Frage nach der Herkunft des Vortex etwas mehr Raum.
    What exactly was this ›vortex‹ which Lewis kept referring to with such pride? As the principal midwife of the movement, he should have made it his duty to lay down an authoritative explanation of the term in his own magazine.[71]
Ja, Lewis hätte eine maßgebende Definition des Vortex geben sollen, aber -- allen seinen späteren Äußerungen nach zu urteilen -- konnte er es nicht. Er wußte nicht wirklich, warum die Vortizisten ihren Namen erhalten hatten, den er begierig annahm, vor allem deshalb, weil er keinen besseren wußte. Er interpretierte das Bild des Vortex ähnlich, wie andere Außenstehende: »Think at once of a whirlpool ... At the heart of the whirlpool is a great silent place where all the energy is concentrated. And there, at the point of concentration, is the Vorticist«[72]. In den fünfziger Jahren behauptete Lewis rückblickend:
    the origin of the term ›Vorticism‹ was the idea of a mass of excited thinking, engrossed in a whirling centre. We all know, without applying to the dictionary, what is meant by a vortex. It is a violent central activity attracting everything to itself, absorbing all that is around it into a violent whirling -- a violent central engulfing. An ingenious critic noticed that my position was offensively central, that I was at once calm and whirling, that I was at once magnetic and incandescent.[73]
So weit Lewis, dessen hier geäußertes Konzept Cork für »immediately understandable« hält. Aber ist es nicht einfach eine Interpretation Lewis` vom Vortex-Begriff, zumal eine, die ihn im Zentrum stehen läßt? Dann aber würde gelten, daß das metaphorische Bild eines Wirbels ein zufälliger passender Fund gewesen wäre. Aber war das tatsächlich der Fall? Die Mehrzahl der Vortizismus-Forscher sieht es offensichtlich so. Daniel Albright bezeichnet den vortizistischen Wirbel-Begriff als zwar »energetic and suggestive« aber in gleichem Maße »artificial, arbitrary, even metaphysical [...] as if a little whirligig could express itself, with varying degrees of potency, in any one of several artistic media«[74]. Der Vortex ein ›little whirligig‹ -- sollte dies nicht eine Unterschätzung sein?
Cork erwähnt, daß auch die Futuristen den Begriff ›Vortex‹ verwendeten, allerdings nur marginal und in einem wirklich sehr allgemeinen Sinn. Immerhin malte jedoch Giacomo Balla 1913-14 mindestens acht Bilder unter dem Titel Vortex, die sich allerdings stilistisch von vortizistischen Bildern unterscheiden. Mehr ist über einen futuristischen Vortex-Begriff nicht bekannt. Aber auch über Pounds Quelle des Vortex weiß Cork nichts wirklich befriedigendes zu berichten: »The position of centrality which this new word signified would have chimed at once with Pound's own determination to pit himself the highest international achievements in art.«[75] Eine zentrale Position gibt es jedoch nicht nur in einem Wirbel. Und genügt der Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen, um das Bild eines Wirbels zu evozieren?
Walter Michel lenkt zumindest den Blick auf die notwendige Arbeitsweise, die Aufklärung über den Vortex-Begriff bei Pound bringen könnte: »So it came about that the Blast or Rebel Art movement, already full grown, became baptised ›the Great English Vortex‹. The new name stuck, and the question was posed for future historians to answer: what was ›Vorticism‹?«[76] Und was war der Vortex? Ein historisches Vorgehen könnte also zu einer Begriffsklärung beitragen.
Nicht erst seit Meyers Biografie ist bekannt, daß Pound den Vortex-Begriff schon Jahre vor dem Vortizismus an einer nicht unbedeutenden Stelle seines Werks eingeführt hat. In der Tat, in Pounds 1908 veröffentlichten, aber bereits 1905 geschriebenen Sonett Plotinus[77] finden wir die früheste Verwendung des Wortes:
      As one that would draw through the node of things,
          Back-sweeping to the vortex of the cone,
          Cloistered about with memories, alone
      In chaos, while the waiting silence sings:

      Obliviate of cycles` wanderings
          It was an atom on creation`s throne
          And knew all nothing my unconquered own.
      God! Should I be the hand upon the strings?!

      But I was lonely as a lonely child.
      I cried amid the void and heard no cry,
      And then for utter loneliness, made I
      New thoughts as crescent images of me.
      And with them was my essence reconciled
      While fear went forth from mine eternity.
Timothy Materer, ein amerikanischer Literaturwissenschaftler und Pound-Forscher publizierte 1977 auf nicht ganz zwei Seiten der Zeitschrift Paideuma ein Ergebnis seiner Forschungen zur Quelle von Pound's Vortex[78], speziell in diesem Gedicht. In seinem Text stellt er fest, daß die »principle source« für Pounds Plotinus-Gedicht »the last section of Plotinus` Enneads« gewesen sei, »which Pound would have read in G. R. S. Mead's edition of Thomas Taylor's translation«. Was Materer zu dieser so freimütig vorgetragenen Behauptung bringt, bleibt leider recht unklar. Er muß immerhin zugeben, daß »the word ›vortex‹ does not appear in the Taylor translation; nor do classical scholars generally use this term«. Es gibt aber Ausnahmen, und Materer zieht einen Altphilologen heran, der mit dem Wort Vortex operiert: »The great scholar John Burnet, however, continually uses the term in his standard work, Early Greek Philosophy.« Was frühgriechische Philosophie mit Plotinus zu tun hätte, bleibt gleichfalls unbeantwortet. Materer verweist (in philologischer Akribie) auf drei Seiten in Burnets Buch von 1892, das er in einer Reprint-Ausgabe von 1957 zitiert. Daß aber Pound dieses Buch überhaupt bekannt gewesen sein soll, entnimmt Materer einem unveröffentlichten Brief Pounds an Wyndham Lewis von 1954[!]: »Ever hear of John Burnet: ›Early greek philosophy‹ 1892/some items on numbers by diagram, as dice and dominoes.... Also a few quotes from Empedokles«[79]. Von ›Vortex‹ ist in diesem Pound-Brief aus den fünfziger Jahren nicht die Rede. Materer sieht sich also zu einer Erklärung für seinen seltsamen Zeitsprung von einem 1908 veröffentlichten Gedicht zu einem Brief von 1954 veranlaßt: »Pound knew Burnet's work and long remembered it.« Die philologische Schlußfolgerung Materers folgt: »In 1914 the ›Vortex‹ seemed a catchy new term for an avant-garde development in the arts. Yet the term was nevertheless grounded in Pound's study of ancient Greek philosophy.«[80]
Diese Behauptung muß allerdings schon philologisch bezweifelt werden. Mir ist es nicht gelungen, in der 1892er Auflage von Burnets Buch, die ich durchgesehen habe, das Wort ›Vortex‹ auch nur ein einziges Mal aufzuspüren. Erst in der zweiten überarbeiteten Auflage von 1908, drei Jahre nachdem Pound sein Gedicht geschrieben hatte, erscheint der Vortex, wie es der Index anzeigt, mit drei Verweisen. Von einem ›continual use‹ kann eher keine Rede sein. Überdies ist eine zentrale Bedeutung des Vortex-Begriffs in Burnets Buch, die ihn für Pound zu einem ›catchy new term‹ hätte machen können, nicht zu erkennen. Vielmehr scheint es so, als wäre Burnet unter den gleichen Umständen dazu gekommen, diesen Begriff zu verwenden, unter denen auch Pound zunächst auf ihn gestoßen sein mag, denn ›Vortex‹ war tatsächlich ein ›catchy new term‹, in gewisser Hinsicht ein Modewort. Aber was für eines? Offensichtlich kein Wort aus der Nomenklatur der Altphilologen, die den Begriff ja, bis auf Burnet, den Pound aber in der entsprechenden Ausgabe nicht gelesen haben kann, überhaupt nicht verwenden. Woher sonst kam dann der Vortex? Es scheint notwendig, sich für diese Forschungen aus dem engeren Kreis der Literaturwissenschaft hinaus zu begeben.
Es ist sicher nicht falsch anzunehmen, daß Pounds Prägung der Zukunftsmetapher ›Vortizismus‹ seinen eigenen literarischen Intentionen geschuldet war. Aber doch betrieb Pound in seinem Vortizismus-Text in Blast und bereits vorher in Zeitschriftenartikeln die Programmatik einer Verbindung aller Künste, selbst wenn dies vor allem ein theoretisches Projekt blieb. Gewiß war es diese Idee eines umfassenden Kunstbegriffs, die ihn bewogen hat, sich in die Bewegung, die eine vortizistische werden sollte, einzuschmuggeln. Bevor Pound jene Künstlergruppe Vortizisten taufte, war sie nahezu ausschließlich ein Freundeskreis von Malern gewesen. Dem widerspricht nicht, daß Pounds unzweideutiger Fokus von Beginn an auf Literatur, insbesondere auf Lyrik lag. Nicht nur hier wird deutlich, daß Pound nicht allein die Literatur, sondern gleichsam die ganze Welt nur in Hinsicht auf ihre Relevanz für seine poetischen Theorien betrachtete. Schon früh hatte er für sich beschlossen, mit dreißig ein exorbitantes Expertenwissen über Dichtung[81], aber nicht nur über sie zu besitzen und er ist diesem Projekt auch im Vortizismus nicht untreu geworden.
Also bleibt eine innerliterarische Herleitung des Vortex-Begriffes unter Berücksichtigung Pounds eigener Intentionen unbefriedigend. Bekannt genug ist, daß Pound, auch wenn er fast ausschließlich über Dichtung geschrieben hat, sich für alle Arten von Wissen interessierte. Pound selbst wies eine junge Dichterin an, daß »One should always find a few things which ›no other living person‹ has done, a few vast territories of print that you can have to yourself and a few friends«[82]. Eines dieser ›vast territories‹, das kaum ein Literaturwissenschaftler im Zusammenhang mit Pound bisher betreten hat[83], ist das Terrain der Naturwissenschaft, oder konkreter: das Gebiet und der Einfluß der englischen viktorianischen Physik in ihrer Bedeutung für Pound.
In diesem tiefenglischen physikalischen Diskurs der viktorianischen Atomtheorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts war der Vortex nicht ein, sondern der zentrale Begriff. Wieso sollte Pound, seit mindestens 1905 literarisch sensibel für den Terminus, dieser zeitgenössische Diskurs unbekannt geblieben sein? Warum sollte er ›seinen‹ Vortex also nicht von daher, nämlich aus einem Diskurs auf der Höhe seiner Zeit, entliehen haben? Meine Behauptung ist: er hat. Um zeigen zu können, wie und warum er es tat, möchte ich im folgenden Kapitel das Dispositiv dieser Physik umreißen, wie es sich einem an dem Diskurs des Wissens Interessierten, der gleichwohl kein Physiker war, dargestellt hat. Auch hier Pound folgend, der jener jungen Dichterin empfahl: »Your first job is to get the tools for your work.«[84] Im Folgenden also der Versuch, ein Handwerkszeug zu bekommen, für einen Zugang zum physikalischen Vortex und damit auch zu Pounds Verständnis von diesem so zentralen Begriff.

 


 

 

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© antje pfannkuchen, Dezember 1999