© antje pfannkuchen, Dezember 1999
Am 3. Dezember 1924
schrieb Ezra Pound aus dem italienischen Rapallo an Percy Wyndham Lewis
in London:
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Ezra Pound und Wyndham
Lewis trafen 1909 in London aufeinander. Der in Kanada geborene Lewis
war in England aufgewachsen und hatte 1898 bis 1901 an der Slade School
of Art in London Malerei studiert. Nach anschließenden ausführlichen
Europareisen mit längeren Studien- und Arbeitsaufenthalten in Madrid,
Holland, München und immer wieder Paris, kehrte er Ende 1908, 26jährig,
nach London zurück. Der Amerikaner Pound war ebenfalls 1908, aus
Italien kommend, in London eingetroffen. Seine akademische Ausbildung
hatte er an der University of Pennsylvania und am Hamilton College im
Staate New York erhalten, wo er offiziell Romanische Sprachen und Mittelalterliche
Literatur studierte, tatsächlich aber die unterschiedlichsten Fächer
belegte und sein großes Interesse für Dichtung entwickelte.
Die Arbeit an einer Dissertation gab er zugunsten einer Romanistik-Dozentur
an einem kleinen College in Indiana auf, wo sein Vertrag allerdings bereits
nach vier Monaten wegen unmoralischen Verhaltens[4]
wieder aufgelöst wurde. Daraufhin schiffte er sich im Februar 1908
nach Europa ein, das er als Junge mehrfach mit seiner Tante, seinen Eltern
und mit Hilfe eines Stipendiums bereist hatte. Er schlug sich als Dolmetscher
und Reiseführer durch, lebte mehrere Monate in Venedig, veröffentlichte
dort auf eigene Kosten seinen ersten Gedichtband und brach im September
Richtung England auf. 1913 schrieb er über die dortige Ankunft: »I
came to London with £3 knowing no one. I had been hungry all my life
for interesting people. I wanted to meet certain men whose work
I admired.«[5]
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In London, wie überall
im Europa der 1910er Jahre war die Kunst im Umbruch, es brodelte an allen
Ecken, der Kubismus aus Paris und die Futuristen aus Mailand begannen an
Einfluß zu gewinnen. Eine der ersten wichtigen Londoner Gruppierungen
eines radikalen Post-Impressionismus -- von Roger Fry selbst so
benannt -- waren die von dem Kunstkritiker und Alliierten der bekannten
Bloomsbury Group, Fry, im Juli 1913 gegründeten Omega Workshops. In
ihnen sollten Künstler für eine (geringe) Tagesgage handwerkliche
Objekte, Geschirr, Mobiliar, Stoffe usw. herstellen und gestalten, die anschließend
als Produkte der Workshops verkauft wurden. Lewis und die mit ihm befreundeten Maler Cuthbert Hamilton, Edward Wadsworth, Frederick Etchells und William Roberts verließen Fry im Oktober unter großem Getöse, weil sie sich, nicht ganz unberechtigt, von ihm bevormundet und übervorteilt fühlten. Eine Petition listete alle Vorwürfe gegen Fry auf, dessen Werkstätten Lewis nach dem Bruch nur noch als »Mr. Fry's curtain and pincushion factory«[10] bezeichnete. Der Aufruhr führte unter anderem zum vollständigen Zerwürfnis zwischen Lewis und allen Bloomsburies, in Anbetracht von deren Einfluß auf die Londoner Kunstwelt durchaus zum Nachteil der späteren Karriere Lewis`. Ab dem Moment dieser Trennung träumte Lewis davon, seine eigene Gruppe zu gründen, deren Kopf natürlich er selbst sein wollte. Seine Malerfreunde, selbst Individualisten durch und durch, waren jedoch zumal nach der schlechten Erfahrung mit Roger Fry nicht bereit, Lewis als Anführer zu akzeptieren. |
Lewis, ein unermüdlicher
Arbeiter an der eigenen künstlerischen Karriere, plante als nächstes
großes Projekt die Herausgabe einer Kunstzeitschrift, die schließlich
im Juli 1914 erscheinen sollte. Als Titel der Zeitschrift hat augenscheinlich
der Maler Christopher Nevinson bereits Ende des Jahres 1913 den Namen
Blast aufgebracht. Lewis war damit nicht vollständig glücklich
und diskutierte mit avisierten Kontributoren des Journals andere Optionen.
Am 17. Dezember 1913 schrieb Wadsworth an Lewis:
Die Konzeption der Zeitschrift schritt schleppend voran. Im März 1914 schreibt Ezra Pound an seine Verlobte Dorothy Shakespear, daß Lewis ihn besucht habe und »has gone off with eleven nice blasty poems of mine« für seine »revue cubiste«. Blast ein Kubistenjournal? Darüber hinaus berichtet Pound davon, daß Lewis »has taken a school -- a nice floor in London, W.C.«[13] Die Schule war Teil des Rebel Art Centres, das Lewis inzwischen mit finanzieller Unterstützung der Malerin Kate Lechmere als Konkurrenz zu den Omega Workshops gegründet hatte. Projektiert waren Ateliers, Platz für Ausstellungen, Vorträge und sonstige Zusammentreffen von Künstlern und jene Schule, über die es in einem Ankündigungsschreiben heißt, sie sei »set out to provide young painters with something like the natural teaching of the artists studios during the best periods of European art«[14]. In den kaum vier Monaten seines Bestehens fand sich kein einziger ernsthafter Schüler ein. Die Arbeit im Zentrum bestand fast ausschließlich darin, die Zeitschrift Blast zu produzieren und Kate Lechmere zeigte sich enttäuscht, daß nicht mehr Kunstwerke geschaffen wurden. Als auch noch persönliche Schwierigkeiten zwischen ihr und Lewis hinzukamen, erklärte sie sich außerstande, weiterhin die Miete für die Räume zu zahlen, woraufhin das Centre im Juni 1914 bereits wieder geschlossen wurde. |
Unter den Referenten,
die im Rebel Art Centre in der kurzen Zeit seiner Existenz Vorträge
hielten, war im Mai 1914 der italienische Futurist Filippo Tommaso Marinetti,
der damals häufig in London weilte und dem direkt und indirekt ein
gewisser Anteil an der Entstehung des Vortizismus gebührt. Marinetti
und seine futuristischen Freunde erregten mit ihren propagandistischen Auftritten,
die sie bereits seit 1910 auch in London zelebrierten, viel Aufsehen und
übten einen großen Einfluß auf junge rebellische englische
Künstler, wie Lewis und seine Mitstreiter aus. Noch 1915 und trotz
aller zwischenzeitlichen Zerwürfnisse schrieb Wyndham Lewis: »We
applaud the vivacity and high-spirits of the Italian Futurists.«[15]
Auch Blast, dessen Veröffentlichung sich wohl zum größten
Teil aus Unerfahrenheit des Herausgebers immer weiter verzögerte, kann
insofern in der Tradition futuristischer Druckwerke gesehen werden, wenn
auch grundlegende Differenzen zwischen beiden Bewegungen nicht außer
Acht gelassen werden dürfen. Im April 1914 schrieb Lewis an Etchells: »In two weeks Blast will positively appear.«[16] Jedoch die Veröffentlichung ließ auf sich warten. Möglicherweise hatte auch die Suche nach einem noch aussagekräftigeren Namen Anteil an dieser Verzögerung. In der Anzeige für Blast, am 15. April 1914 in The Egoist abgedruckt und das Erscheinen für Ende des Monats ankündigend, gibt es noch keinen Hinweis auf den Namen Vortizismus. Statt dessen wird die Zeitschrift als Forum zur »Discussion of Cubism, Futurism, Imagisme and all Vital Forms of Modern Art« avisiert.[17] So, wie Pound sie ebenfalls im April in einem Brief an James Joyce beschreibt: »Lewis is starting a new Futurist, Cubist, Imagiste Quarterly, [...] I cant tell, it is mostly a painters magazine with me to do the poems.«[18] Pound scheint in die Aktivitäten um Blast nicht besonders involviert zu sein. Im Mai schreibt Lewis an eine Freundin: »As to Blast, [...] Two to three weeks will see it set up and ready to produce.«[19] Die Frage nach einem anderen Namen war offenbar wieder fallen gelassen worden. Es schien, als bliebe es bei Blast und als ließe sich Lewis` Traum von der Führung einer Bewegung nicht verwirklichen, bis eine weitere Aktion Marinettis in London die gesamte Situation veränderte. Wie immer auch von futuristischen Ideen und Praktiken beeindruckt und beeinflußt, -- es mißfiel den englischen Künstlern ganz offensichtlich das arrogante Auftreten Marinettis. Auf eine bestimmte Weise beneideten ihn die meisten vermutlich um seinen Erfolg, hielten ihn aber zugleich für einen Scharlatan. Sich ihm direkt anzuschließen, kam außer Christopher Nevinson keinem in den Sinn. Lewis war es, der immer wieder die Überlegenheit des nordischen Englands über den romantizistischen Süden betonte: »England practically invented this civilisation that Signor Marinetti has come to preach to us about«[20], schrieb er im Juni 1914 in einem Zeitungsartikel. Die in jenem Artikel geäußerte Empörung folgte indessen einem konkreten Anlaß. Anfang Juni 1914, nur wenige Tage nach seinem Auftritt im Rebel Art Centre, hatte Marinetti versucht, die jungen Londoner Künstler als Englische Futuristen zu vereinnahmen. Im Wissen um Lewis` geplante Zeitschrift, deren Erscheinen schon mehrfach angekündigt war, ließ Marinetti erkennen, daß er alles, was da kommen möge, schon im Vorhinein mit dem Stempel Futurismus versehen wolle, um es unter seine Dominanz zu bringen. Er veröffentlichte am 7. Juni 1914 ein futuristisches Manifest für eine Vital English Art und setzte ungefragt die Adresse des Rebel Art Centres sowie neben seinem eigenen die Namen diverser Künstler, die mit dem Zentrum assoziiert waren, als Absender darunter. Marinetti erreichte mit dieser Aktion das Gegenteil dessen, was er angestrebt hatte. Mit einem Aufschrei der Empörung distanzierten sich die englischen Rebellen von seinem Vorstoß. Auf Marinettis Manifest reagierten sie eine Woche später, am 14. Juni, mit der Veröffentlichung einer Gegendarstellung. Bereits am 12. des Monats hatte Lewis »a determined band of miscellaneous anti-futurists«[21] um sich versammelt, die die Veranstaltung, auf der Marinetti den englischen Futurismus proklamierte, in einer Art counter-putsch sprengte. Bei dieser Gelegenheit gaben sich die Störer zum ersten Mal den Namen Vortizisten und die englische Presse war fast noch schneller als die Vortizisten selbst, ihre Existenz zu verkünden. Am 15. Juni schrieb der Yorkshire Observer: »Futurism in this country has hardly been born before it has budded of into Vorticism.«[22] Plötzlich war der lange gesuchte Name gefunden. So war auch Lewis` Stunde gekommen. Die englischen Kunst-Rebellen, um sich und ihre Kunstkonzepte unmißverständlich von den Futuristen abzusetzen, sie vor Fremdbestimmungen zu schützen, akzeptierten sogar, daß Lewis in dieser neuen Gegenbewegung die Führung übernahm. Lewis` Freund, der Dichter und Theoretiker Ezra Pound, unterstützt ihn darin nach Kräften und erklärt am 15. Juni im Egoist: »we have in Mr Lewis our most articulate voice. And we will sweep out the past century as surely as Attila swept across Europe.«[23] Pound hatte allen Grund, diese Bewegung zu unterstützen, denn sie trug ab sofort seinen Namen. Vortizismus war der Name, der die propagandistische Lücke der Selbstbehauptung der englischen Kunst füllte, nachdem sie durch Marinettis Aktion umso deutlicher aufgezeigt worden war. Was wäre Lewis am Kopf einer neuen Künstlerbewegung ohne einen Namen gewesen? Die Künstlergruppe wollte und mußte sich eindeutig von den Futuristen abgrenzen und dies war nur möglich mit einem Namen, der individueller war, als sich einfach nur Rebellen oder gar Anti-Futuristen zu nennen. Der originäre Name für die Gruppe kam von Pound. Taufte er damit die durchaus heterogene Bewegung nach dem wirbelnden Vortex, als den er London -- die Künstlerszene, das Kunstklima der Stadt -- schon 1913 beschrieben hatte[24]? Oder nach jenem Vortex, den er in einem Brief an seine Verlobte Dorothy Shakespear als zentral für jedes künstlerische Schaffen bezeichnet hatte: »Energy depends on ones ability to make a vortex--genius même«[25]? Lewis, wenn auch anerkannter Kopf der Gruppe, hat jedenfalls niemals Urheberschaftsansprüche für diesen Namen angemeldet, vielmehr gibt er unumwunden zu: »It was Pound who invented the word vorticist«[26] und William Roberts bestätigt, daß diese Erfindung »in that fateful month of June 1914« stattfand und sofort allgemein akzeptiert wurde.[27] Auf diese Weise konnte Blast in wahrhaft letzter Sekunde zur Review of the Great English Vortex werden. Ohne offensichtlich danach zu fragen, wieso Pound gerade diese Bezeichnung für sie wählte, eignen sich die Vortizisten ihren Namen an und deuten ihn nach Belieben aus. Was aber waren Pounds Gründe für seine Namenswahl? Der Antwort auf diese Frage soll in dieser Arbeit nachgegangen werden. |
Die Künstler,
die heute unter der Bezeichnung Vortizisten genannt werden, waren eine bei
weitem disparatere Gruppe als die Futuristen, wenn erstere sich denn überhaupt
je als eine irgendwie homogen agierende Gruppe verstanden haben, was aus
heutiger Sicht durchaus zweifelhaft erscheint. Die Londoner Vortizisten
setzten sich hauptsächlich aus den Assoziierten des Rebel Art Centres
zusammen, wobei es auch dabei schon schwerfällt, zu bestimmen, wo die
Grenze zwischen den eigentlichen Aktivisten und bloßen
Sympathisanten verlief. Zumindest gab es keinerlei formale Mitgliedschaft,
weder im Rebel Art Centre noch bei den Vortizisten. Der Herausgeber
eines der umfangreichsten Lewis-Kataloge, Walter Michel, entschied sich
für folgende Grenzziehung: »I reserve the term Vorticist for painters
close to Blast and the Rebel Art Centre who, when offered
a choice, elected to exhibit as Vorticists.«[28] Michel beschränkt sich auf Maler, wobei
sicher ist, daß Pound und Gaudier-Brzeska als Dichter und Bildhauer
auf jeden Fall hinzuzuzählen wären. Schließlich gab es nur
eine einzige tatsächlich vortizistische Ausstellung im Juni 1915. Andere
gemeinsame Aktionen oder Auftritte im Stile der Futuristen fanden praktisch
nicht statt; jeder arbeitete individuell, gemeinsam wurden höchstens
die fertigen Werke präsentiert. Die Ablehnung von kollektiver Arbeit
führte so weit, daß Lewis seine Bilder bis zum Tag der Ausstellungseröffnung
unter Verschluß hielt, aus Angst, kopiert zu werden.[29] Der Stil der vortizistischen Maler und Bildhauer war wesentlich vom Kubismus geprägt. Die Ausdrucksformen ihrer Veröffentlichung Blast dagegen konnten den futuristischen Einfluß nicht verleugnen und Lewis imitierte in seinem Auftreten als Kopf der Gruppe mehr oder minder deutlich deren Anführer Marinetti (der genau deshalb zu seinem Erzrivalen wurde), weil er sich gleichsam als eigentlicher Futurist fühlte. Der künstlerische Vorwurf der Vortizisten gegen die Futuristen bezog sich nämlich vor allem darauf, daß die Italiener zwar ihre Themen aus dem Bereich der Technik und des modernen Lebens wählten, jedoch bei der künstlerischen Sprache des Impressionismus blieben. Für Pound war Futurismus nicht mehr als eine »accelerated sort of impressionism«[30], wogegen die Vortizisten daran interessiert waren, eine neue formale Sprache zu entwickeln, die den Geist der Moderne und des Maschinenzeitalters zum Ausdruck bringen würde. Die thematischen Inhalte der Kunstwerke konnten nach dieser Auffassung unabhängig von einer akuten Aktualität gewählt werden, die formale Darstellung mußte dagegen neu und überraschend sein. |
Blast 1, diese erste Nummer der großformatigen Zeitschrift, die insgesamt nur zweimal erscheinen sollte, hatte einen leuchtend rosaroten Umschlag, auf dem schräg von links oben nach rechts unten in dicken schwarzen Blocklettern, die Seite füllend, einzig der Name »BLAST« zu lesen war. |
Schon in dieser äußeren
Gestaltung stellte sie eine Provokation dar. Dazu war der Titel Blast
in seinem Bedeutungsumfang von sprengen, verfluchen, verdammen
darauf ausgerichtet, Empörung hervorzurufen. Aber er enthielt auch
eine indirekte Referenz auf die Hochöfen [blast furnace] des industriellen
Englands, das die Vortizisten in ihren Manifesten so herausstellen sollten.
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Die zentrale Bedeutung
Wyndham Lewis` für die Bewegung des Vortizismus als solche bestätigt
Pound noch 1956 in einem Brief an eine Freundin:
Ultimately Gaudier for sculpture, E.P. for poetry, and W.L., the main mover, set down their personal requirements.[35] Daß der Name Vortizismus praktisch in letzter Sekunde aufkam, als Teile des Heftes höchstwahrscheinlich schon gedruckt oder zumindest im Layout fertiggestellt waren, wird an mehreren Stellen in Blast 1 deutlich. In den beiden Manifesten, die die Zeitschrift -- ganz in futuristischer Manier -- enthielt, ist keine Rede vom Vortex, statt dessen sind vor diese Manifeste anderthalb Seiten Text unter der Überschrift Long Live the Vortex! ohne Paginierung eingefügt. Der erste Satz dieser ebenfalls manifestartigen Schrift demonstriert die Plötzlichkeit der Namensfindung: »Long live the great art vortex sprung up in the centre of this town!«[36] Wie aus dem Nichts kommend, über Nacht aufgetaucht, so scheint es, kam der Vortex in die Welt der Kunst. Außer in diesen nicht ganz zwei vorangestellten Seiten, sowie in den drei Positionspapieren Our Vortex von Lewis, Vortex, Pound und Vortex Gaudier-Brzeska ziemlich weit am Ende des Heftes, was insgesamt nur 10 von 150 Seiten des Heftes ausmacht, kommt der Begriff in Blast 1 nicht weiter vor. In einem Text thematisiert Lewis sogar noch die Begriffslosigkeit, die fehlende Bezeichnung für die Art von englischer Kunst, die zwar teilweise dem Futurismus nahesteht, sich aber gleichzeitig wesentlich von ihm unterscheidet. »We may hope before long to find a new word«[37], schreibt er in Blast 1 unter der Überschrift The Melodrama of Modernity, obwohl inzwischen das new word längst gefunden war. Was ist nun aber die große Differenz zum Futurismus? Wie bereits angedeutet, geht es den Vortizisten um eine formale Neugestaltung der Kunst, im Gegensatz zur vorrangigen Besetzung von neuen Themen durch die Futuristen. Lewis beleuchtet den für ihn entscheidendsten Aspekt der Abgrenzung vom Futurismus am deutlichsten im Nachhinein, nämlich in seiner Autobiographie von 1937, in der Erinnerung an ein Gespräch mit Marinetti. Als ihn der Italiener zum Futuristen erklären will bzw. ihn fragt, wieso er sich nicht einfach als einer bezeichne, da er es doch sei, wehrt Lewis sich mit der Entgegnung: »You Wops insist too much on the Machine [...] We've had machines here in England for a donkey's years. They're no novelty to us.« Marinettis Einwand, daß die Engländer aber ihre Maschinen nie verstanden hätten, überhört Lewis geflissentlich und die Schwärmerei vom Nervenkitzel der Geschwindigkeit beantwortet er mit unmißverständlichem Abscheu: »I loathe anything that goes too quickly. If it goes too quickly, it is not there.« Er fügt ein Baudelaire-Zitat an, das der Futurist Boccioni gerade in einem Buch attackiert hatte: »Je hais le mouvement qui déplace les lignes.«[38] Diesem von Baudelaire indirekt formulierten Ideal zu folgen, das dem futuristischen Geschwindigkeitsrausch diametral entgegen steht, wird zur zentralen Behauptung der Vortizisten. Sie dementieren ganz und gar nicht, wie bestimmt die moderne Welt von den anwachsenden technischen Geschwindigkeiten ist. Ein vortizistischer Künstler jedoch läßt sich nicht von ihnen hinwegreißen, sondern beobachtet aus einer ruhigen Position. Denn:
The Vorticist is not the Slave of Commotion, but it's Master.[39]
Walter Michel konstatiert, daß es offensichtlich einen Lewis`schen Vortizismus gegeben habe, der darin bestand, daß Lewis mehr oder minder behauptete: Vortizismus ist, was ich tue. Daneben gab es das, was man als die vortizistische Bewegung bezeichnen könnte, nämlich all die anderen Künstler, die sich mit unter die Fahne Vortizismus stellten oder stellen ließen und schließlich, davon nahezu unabhängig, gab es den Vortizismus Ezra Pounds.[43] Es liegt an diesen unterschiedlichen Auffassungen vom Vortizismus, daß bis zum heutigen Tage »it's aesthetic principles have remained blurred«[44]. Durchaus fraglich bleibt, ob eine für alle diese Künstler mit ihren so unterschiedlichen Werken und Interessen gemeinsame und also verbindende Bezeichnung als Vortizisten rückblickend überhaupt gerechtfertigt war. |
Blast 1 enthält
zwei von Lewis verfaßte Manifeste und einen manifestartigen vorangestellten
Text zum Vortex, die alle zusammen in Form und Inhalt die Wucht der schon
im Titel antizipierten Sprengung verstärken. »We believe
in no perfectibility except our own«[45], heißt es in Long Live the Vortex! Dieser Programmtext
ist, im Gegensatz zu den beiden auf ihn folgenden Manifesten, bei denen
schon die Typographie schreiend ist, in einem annähernd normalen Satzspiegel
geschrieben. Allerdings besteht er fast nur aus aktiven Hauptsätzen,
die jeweils einen neuen Absatz bilden. Die ersten Sätze beginnen mit
»We stand for... We want... We do not want... We are... We need...«.
Lewis` vortizistische Ziele sind in diesem Text am wenigsten metaphorisiert
formuliert, aber es zeigt sich auch, daß das Projekt nicht ohne Humor
betrieben wird: |
Was war Vortizismus
und wer war Vortizist? Bei der Beantwortung dieser Frage helfen die Manifeste
nicht wirklich weiter und auch nicht der sonstige Inhalt von Blast 1.
Abgesehen von den erwähnten Vortex-Artikeln und den Manifesten, die
Lewis` Position präsentieren, enthält Blast 1 auch
Beiträge anderer Künstler und Literaten, die bestenfalls einen
mittelbaren Bezug zu einer Theorie des Vortizismus hatten. Ford Madox
Hueffer und Rebecca West, die definitiv nicht als Vortizisten bezeichnet
werden können, ließen jeweils Kurzgeschichten abdrucken. Der
Maler Frederick Etchells, ein sehr enger Freund von Lewis, veröffentlichte
seine Bilder in Blast, weigerte sich jedoch, das Manifest zu unterzeichnen:
Vortizismus -- eine
Pseudo-Bewegung? David Bomberg, der in vielen Katalogen als Vortizist
gelistet wird[52], unterschrieb nicht
nur nicht, sondern drohte Lewis mit einer Klage, falls dieser seine Bilder
in Blast drucken würde. Auch Jacob Epstein, der Bildhauer,
dessen Skulptur The Rock Drill (1913/14) oft als Emblem des Vortizismus
gesehen wird, ließ zwar zwei seiner Zeichnungen in Blast 1
abdrucken, zeigte sich jedoch schon damals, und deutlicher noch rückblickend,
mehr als distanziert. Er stellte zwar mit den Vortizisten aus, hatte sonst
aber kaum etwas mit ihnen zu tun. |
Wyndham Lewis erwähnt
er nur in einer Aufzählung von Gästen auf T. E. Hulmes
Party. Die abstrakte Kunst des Vortizismus scheint für Epstein, wenn
man sein Gesamtwerk betrachtet, ein kurzer vom Ersten Weltkrieg jäh
abgebrochener Exkurs gewesen zu sein. Von den Unterzeichnern des Manifests hat sich außer Gaudier-Brzeska, Lewis und Pound kaum jemand zum Vortizismus geäußert. Roberts, der von seiner Unterschrift erst erfuhr, als er das fertig gedruckte Heft in der Hand hielt, malte in den sechziger Jahren ein stilisiertes nostalgisches Bild, dem formal der Vortizismus nicht mehr anzusehen ist The Vorticists at the Restaurant de la Tour Eiffel: Spring 1915. |
Lewis, mit Schlapphut
und Schal, thront im Zentrum, seine Dominanz in der Gruppe ist unübersehbar.
Um ihn scharen sich am Tisch (von links): der Maler Cuthbert Hamilton, über
den wenig mehr bekannt ist, als daß er das vortizistische Manifest
unterzeichnete; rechts vor ihm Ezra Pound, der als hellste Gestalt in der
Runde neben Lewis den zweiten Blickfang bietet; daneben, klein und fast
verschüchtert wirkend, der Maler des Bildes selbst, William Roberts;
auf der anderen Seite von Lewis, die erste Ausgabe Blast in der Hand
haltend, Frederick Etchells, der sich ab den zwanziger Jahren der Architektur
zuwandte; neben ihm Edward Wadsworth, Maler und Kandinsky-Übersetzer.
Im Hintergrund links kommen, scheinbar verspätet, die beiden vortizistischen
Frauen Helen Saunders und Jessica Dismorr zur Tür herein, beide zeitweilige
Geliebte von Lewis. Etchells ist dabei, dafür fehlen die Manifest-Unterzeichner
Aldington, Arbuthnot, Atkinson und vor allem Gaudier-Brzeska. Es ist eine
subjektive Auswahl. Der Maler Roberts erinnert sich nur an die vortizistischen
Maler, und natürlich Pound, denn der Namensgeber durfte nicht fehlen.
Aber war somit der Vortizismus doch vor allem eine Maler-Bewegung? Betrachten wir die Situation, die den Vortizismus hervorbrachte. Es gab zum einen Ezra Pound, der sich aus einem noch näher zu erläuternden Grund mit dem Vortex beschäftigte, der Kunsttheorien entwickelte und diese gern publik machen wollte. Zum anderen gab es Wyndham Lewis, der sich ebenfalls mit der Entwicklung seiner Kunst und Kunsttheorien beschäftigte, der aber vor allem »wanted to be top dog all the time«[56], wie Etchells ihn einschätzte. Darüber hinaus gab es mehrere junge Künstler und Literaten in London, die teilweise mit Lewis, teilweise mit Pound befreundet waren, von Kubismus, Futurismus und Expressionismus viel gelernt hatten, sich aber weder der einen noch der anderen Bewegung vollkommen anschließen bzw. unterordnen wollten. In dem Moment nun, da Marinetti ihnen gleichsam eine Vorlage gibt, begreifen sowohl Lewis wie Pound, daß sie diese Chance zur Verkündung ihrer eigenen Ideen nutzen können und müssen. Lewis hat eine Zeitschrift, die fast fertig ist, also innerhalb kürzester Zeit erscheinen kann; Pound hat einen Namen mit starker Symbolkraft. So ist es im ersten Moment nicht unbedingt zwingend, daß die Ziele der beiden Männer die gleichen sind. Es reicht, daß die Interessen beider darin übereinkommen, ein möglichst großes Publikum zu erreichen, und diese Gelegenheit bietet sich ihnen in dem Moment, wo sie Marinetti, der die Londoner Szene im Sinne der Radikalisierung der Kunst vorbereitet hat, mit ihrer eigenen Initiative überbieten können. Von jener Störung der Futuristenversammlung, dem counter-putsch vom 12. Juni 1914, berichtet eine italienische Zeitschrift unter der Überschrift: I VORTICISTI SORPASSANO IN AUDACIA I FUTURISTI. [Die Vortizisten übertreffen in ihrer Kühnheit die Futuristen.] Für die Futuristen grenzte der Vorfall, vor allem aber diese Berichterstattung an eine Blamage. James Joyce schickte den Artikel aus einer Triester Zeitung an Ezra Pound. Es heißt darin weiter:
Aber es waren durchaus nicht nur Irrtümer oder Kunstmarktinteressen, welche die Rebellen zustimmen ließen, nun Vortizisten zu sein. Lewis und Pound proklamierten auch Ideale, hinter die sich die Künstler stellen konnten und die Lewis in seiner zweiten Autobiographie Rude Assignment als Philosophie von Blast beschreibt: »It was more than just picture-making: one was manufacturing fresh eyes for people, and fresh souls to go with the eyes«[59]. Diese Vision mehr noch als jeder Stil war für die verschiedenen Künstler von Pound und Gaudier bis zu Epstein und Wadsworth so anziehend und mit der Veröffentlichung von Blast, »whose portentous dimensions, and violent tint did more than would a score of exhibitions to make the public feel that something was happening«[60], wurde die vortizistische Bewegung auch für Außenstehende zum Faszinosum. So, wie Ford Madox Hueffer, der sich trotz seiner Kurzgeschichte in Blast 1 niemals als Vortizist betrachtet hat, schrieb: »I am not at this moment engaged in appraising Blast as an achievement. But even to denizens of the stars it must be evident that Blast is an adventure, an exploration«.[61] Es war im Wesentlichen das Abenteuer von Lewis und Pound, die ihren jeweils eigenen theoretischen Vortizismus kreierten und verbreiteten. Das Diner, das anläßlich des Erscheinens von Blast 1 veranstaltet wurde und welches nicht, wie Roberts mit seinem Bild fälschlich antizipiert, im Frühjahr 1915, sondern tatsächlich kurz nach der Publikation im Juli 1914 stattfand, diente in erster Linie dazu, den bis dahin in Ermangelung einer Gruppe fehlenden Gruppengeist zu erzeugen. Trotzdem bleiben Lewis und Pound (abgesehen von dem schon im Frühjahr 1915 gefallenen Henri Gaudier-Brzeska) die einzigen, die ihre tatsächlichen Standpunkte unter der Überschrift des Vortizismus kundtun. Lewis vertritt seine Position hauptsächlich in den beiden Blast-Heften, Pound schreibt auch in anderen Zeitschriften mehrere Artikel zum Vortizismus. |
An den drei kurzen
Aufsätzen in Blast 1: Our Vortex von Lewis, Vortex,
Pound und Vortex Gaudier-Brzeska, sieht man die unterschiedlichen
Auffassungen über den Vortex deutlich. Walter Michel hat die Differenz
in einem Satz sehr klar umrissen: »Pound links the symbol of the
Vortex to his ideas of primary form; Gaudier uses it as the starting point
for his magnificent survey of the art of sculpture; Lewis, in Our
Vortex, makes much use of the name, but barely acknowledges the
possibilities of the symbol.«[62]
Will and consciousness are our VORTEX. Lewis hingegen bricht in seinem Text zu allererst mit jeglicher Vergangenheit, sich damit sowohl von Pound wie von Gaudier unterscheidend und in diesem Punkt an Marinetti anschließend: »Our vortex is not afraid of the Past : it has forgotten it's existence.«[66] Die von den Futuristen glorifizierte Zukunft erklärt er allerdings sofort für genauso sentimental wie die Vergangenheit, beide sollten aber dennoch jeweils als Elemente erhalten bleiben, »the Past to mop up our melancholy, the Future to absorb our troublesome optimism«. Kunst existiere jedoch nur in der Gegenwart: »With our Vortex the Present is the only active thing.« Ebenso sei aber alle Gegenwart Kunst: »There is no Present -- there is Past and Future, and there is Art«. Lewis jongliert mit dem Begriff Vortex, bezieht sich auf das Bild eines Wirbels bzw. Strudels nur insofern, als er die Stille im Zentrum als den Ort des Vortizisten definiert, der sich von aller Bewegung um ihn her nicht mitreißen läßt, sondern sie beherrscht: »He lets Life know its place in a Vorticist Universe ! [...] There is one Truth, ourselves, and everything is permitted.« In den beiden Texten von Gaudier-Brzeska und Lewis fungiert Vortex als ebenso willkommene wie überladene Wortfigur. Der Vortex wird zum metaphorischen Wirbel überhöht, wie man ihn sich in einer Stromschnelle oder einer Windhose vorstellen kann, ein Wirbel, der Material und Energie aus seiner Umgebung saugt, dabei das Alte vernichtet und zu etwas Neuem, Einzigartigem verarbeitet. Es ist ein Wirbel, der in seinem Zentrum, in dem sich die Vortizisten sehen, alle Energien konzentriert hat. Pounds Vortex-Beschreibung[67] unterscheidet sich von all dem sehr deutlich und grundsätzlich. Wohl enthält sie ebenfalls die Pointe, daß »the vortex is the point of maximum energy« und daß »all experience rushes into this vortex«. Es scheint aber, als habe bei Pound der Vortex-Begriff von Beginn an mehr Struktur und Form, jenseits einer rein willkürlichen Wortwahl. Wenn Pound von seinem Vortex spricht, referenziert er, der vortizistische Finder des Wortes, auf solch nüchterne Mechanismen und naturwissenschaftliche Termini wie »efficiency«, »mechanics« oder »fluid force«. Pounds Andeutungen beziehen sich auf Kräfte, Effizienz und Mechanik, also auf Physik. Parallel dazu benennt er das »primary pigment« als dasjenige, wovon ein Künstler in seinem wahren Künstlertum abhängt. In der zeitgenössischen englischen Physik existierte ebenfalls der Begriff des Vortex, und zwar an zentraler Stelle der physikalischen Atom-Konzeption. Läßt sich also ein Zusammenhang finden zwischen dem Wirbel und dem primary pigment, welches, in die Physik rückübersetzt, nichts anderes denn das Atom wäre? Die naturwissenschaftliche Metaphorik in Pounds Blast/Vortex-Manifest gibt Anlaß genug, dieser Frage im folgenden nachzugehen. |
Woher kommt der Begriff
Vortex? Daß Pound ihn vorschlug und er von den verschiedenen Akteuren
des Vortizismus auf die unterschiedlichste Weise verstanden wurde, haben
wir gesehen. Die Vermutung eines physikalischen Ursprungs steht im Raum,
doch wie kommt der Begriff in den poetischen und kunstprogrammatischen
Diskurs Ezra Pounds?
Diese Unklarheit führt dazu, daß fast alle Autoren, die über die Vortizisten schreiben, beginnen, entweder einsilbig oder phantasievoll zu werden, wenn es darum geht, die Herkunft des Vortex zu bestimmen. Viele halten auch die metaphorischen Bedeutungen des Wirbels für eine ausreichende Begründung der Namenswahl. Lewis` Biograph Jeffrey Meyers bemerkt, daß Pound »first used the Cartesian and Blakean word vortex in his poem Plotinus (1908)«[69], den Philosophen Descartes und den Dichter William Blake als mögliche Quellen suggerierend. In einem Vorwort zum Katalog der Hayward Gallery über »Vorticism and its allies« von 1974 machte Richard Cork es sich leicht und behauptete einfach: »No wonder Pound thought of a vortex: the excitement was constant, intense, and not a little hysterical.«[70] Ein Jahr später, in seinem großen zweibändigen Vortizismus-Katalog widmet er der Frage nach der Herkunft des Vortex etwas mehr Raum.
Cork erwähnt, daß auch die Futuristen den Begriff Vortex verwendeten, allerdings nur marginal und in einem wirklich sehr allgemeinen Sinn. Immerhin malte jedoch Giacomo Balla 1913-14 mindestens acht Bilder unter dem Titel Vortex, die sich allerdings stilistisch von vortizistischen Bildern unterscheiden. Mehr ist über einen futuristischen Vortex-Begriff nicht bekannt. Aber auch über Pounds Quelle des Vortex weiß Cork nichts wirklich befriedigendes zu berichten: »The position of centrality which this new word signified would have chimed at once with Pound's own determination to pit himself the highest international achievements in art.«[75] Eine zentrale Position gibt es jedoch nicht nur in einem Wirbel. Und genügt der Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen, um das Bild eines Wirbels zu evozieren? Walter Michel lenkt zumindest den Blick auf die notwendige Arbeitsweise, die Aufklärung über den Vortex-Begriff bei Pound bringen könnte: »So it came about that the Blast or Rebel Art movement, already full grown, became baptised the Great English Vortex. The new name stuck, and the question was posed for future historians to answer: what was Vorticism?«[76] Und was war der Vortex? Ein historisches Vorgehen könnte also zu einer Begriffsklärung beitragen. Nicht erst seit Meyers Biografie ist bekannt, daß Pound den Vortex-Begriff schon Jahre vor dem Vortizismus an einer nicht unbedeutenden Stelle seines Werks eingeführt hat. In der Tat, in Pounds 1908 veröffentlichten, aber bereits 1905 geschriebenen Sonett Plotinus[77] finden wir die früheste Verwendung des Wortes:
Back-sweeping to the vortex of the cone, Cloistered about with memories, alone In chaos, while the waiting silence sings: Obliviate of cycles` wanderings It was an atom on creation`s throne And knew all nothing my unconquered own. God! Should I be the hand upon the strings?! But I was lonely as a lonely child. I cried amid the void and heard no cry, And then for utter loneliness, made I New thoughts as crescent images of me. And with them was my essence reconciled While fear went forth from mine eternity. Diese Behauptung muß allerdings schon philologisch bezweifelt werden. Mir ist es nicht gelungen, in der 1892er Auflage von Burnets Buch, die ich durchgesehen habe, das Wort Vortex auch nur ein einziges Mal aufzuspüren. Erst in der zweiten überarbeiteten Auflage von 1908, drei Jahre nachdem Pound sein Gedicht geschrieben hatte, erscheint der Vortex, wie es der Index anzeigt, mit drei Verweisen. Von einem continual use kann eher keine Rede sein. Überdies ist eine zentrale Bedeutung des Vortex-Begriffs in Burnets Buch, die ihn für Pound zu einem catchy new term hätte machen können, nicht zu erkennen. Vielmehr scheint es so, als wäre Burnet unter den gleichen Umständen dazu gekommen, diesen Begriff zu verwenden, unter denen auch Pound zunächst auf ihn gestoßen sein mag, denn Vortex war tatsächlich ein catchy new term, in gewisser Hinsicht ein Modewort. Aber was für eines? Offensichtlich kein Wort aus der Nomenklatur der Altphilologen, die den Begriff ja, bis auf Burnet, den Pound aber in der entsprechenden Ausgabe nicht gelesen haben kann, überhaupt nicht verwenden. Woher sonst kam dann der Vortex? Es scheint notwendig, sich für diese Forschungen aus dem engeren Kreis der Literaturwissenschaft hinaus zu begeben. Es ist sicher nicht falsch anzunehmen, daß Pounds Prägung der Zukunftsmetapher Vortizismus seinen eigenen literarischen Intentionen geschuldet war. Aber doch betrieb Pound in seinem Vortizismus-Text in Blast und bereits vorher in Zeitschriftenartikeln die Programmatik einer Verbindung aller Künste, selbst wenn dies vor allem ein theoretisches Projekt blieb. Gewiß war es diese Idee eines umfassenden Kunstbegriffs, die ihn bewogen hat, sich in die Bewegung, die eine vortizistische werden sollte, einzuschmuggeln. Bevor Pound jene Künstlergruppe Vortizisten taufte, war sie nahezu ausschließlich ein Freundeskreis von Malern gewesen. Dem widerspricht nicht, daß Pounds unzweideutiger Fokus von Beginn an auf Literatur, insbesondere auf Lyrik lag. Nicht nur hier wird deutlich, daß Pound nicht allein die Literatur, sondern gleichsam die ganze Welt nur in Hinsicht auf ihre Relevanz für seine poetischen Theorien betrachtete. Schon früh hatte er für sich beschlossen, mit dreißig ein exorbitantes Expertenwissen über Dichtung[81], aber nicht nur über sie zu besitzen und er ist diesem Projekt auch im Vortizismus nicht untreu geworden. Also bleibt eine innerliterarische Herleitung des Vortex-Begriffes unter Berücksichtigung Pounds eigener Intentionen unbefriedigend. Bekannt genug ist, daß Pound, auch wenn er fast ausschließlich über Dichtung geschrieben hat, sich für alle Arten von Wissen interessierte. Pound selbst wies eine junge Dichterin an, daß »One should always find a few things which no other living person has done, a few vast territories of print that you can have to yourself and a few friends«[82]. Eines dieser vast territories, das kaum ein Literaturwissenschaftler im Zusammenhang mit Pound bisher betreten hat[83], ist das Terrain der Naturwissenschaft, oder konkreter: das Gebiet und der Einfluß der englischen viktorianischen Physik in ihrer Bedeutung für Pound. In diesem tiefenglischen physikalischen Diskurs der viktorianischen Atomtheorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts war der Vortex nicht ein, sondern der zentrale Begriff. Wieso sollte Pound, seit mindestens 1905 literarisch sensibel für den Terminus, dieser zeitgenössische Diskurs unbekannt geblieben sein? Warum sollte er seinen Vortex also nicht von daher, nämlich aus einem Diskurs auf der Höhe seiner Zeit, entliehen haben? Meine Behauptung ist: er hat. Um zeigen zu können, wie und warum er es tat, möchte ich im folgenden Kapitel das Dispositiv dieser Physik umreißen, wie es sich einem an dem Diskurs des Wissens Interessierten, der gleichwohl kein Physiker war, dargestellt hat. Auch hier Pound folgend, der jener jungen Dichterin empfahl: »Your first job is to get the tools for your work.«[84] Im Folgenden also der Versuch, ein Handwerkszeug zu bekommen, für einen Zugang zum physikalischen Vortex und damit auch zu Pounds Verständnis von diesem so zentralen Begriff. |
Fußnoten:
[1]
Pound, Brief an Lewis, 3 Dec. 1924, in: Pound/Lewis (1985), S. 138. Die
Rechtschreibung in den Zitaten Pounds entspricht -- auch und vor allem, wenn
sie seltsam erscheint -- der Originalschreibweise Pounds.
[2] Lewis (1950/1984), S. 135.
[3] Pound in: Pound/Lewis (1985), S. 302.
[4] Den letzten Anlaß für seine Kündigung
bot angeblich eine obdachlose Varietékünstlerin, die er in seinem
Zimmer übernachten lassen hatte (Vgl. u.a. Wilhelm (1985), S. 182).
[5] Pound, How I Began, T.P.`s Weekly,
6 June 1913, in: Pound (1991), Bd. 1, S. 147.
[6] Lewis (1937), S. 277.
[7] Lewis (1937), S. 278.
[8] Meyers (1980), S. 32.
[9] Kenner (1971), S. 236.
[10] Blast 2, S. 41.
[11] Zit. nach Cork (1976), Bd. 1, S. 230.
[12] Vgl. Cork (1976), Bd. 1, S. 234.
[13] Pound/Shakespear (1984), S. 315-16.
[14] Prospectus of the RAC, zit. nach:
Michel (1971), S. 68.
[15] Blast 2, S. 41.
[16] Lewis (1963), S. 60.
[17] Vgl. Reproduktion dieser Anzeige in: Kenner
(1971), S. 237.
[18] Pound/Joyce (1967), S. 26.
[19] Lewis (1963), S. 61.
[20] Lewis in einem Zeitungsartikel, 20. Juni
1914, zit. nach Cork (1976), Bd. 1, S. 234.
[21] Lewis (1937), S. 36.
[22] Zit. nach: Cork (1976), Bd. 1, S. 234.
[23] Pound, Wyndham Lewis, Egoist,
15 June 1914, in: Pound (1991), Bd. 1, S. 252.
[24] Brief an W. C. Williams, in:
Pound/Williams (1996), S. 23.
[25] Pound/Shakespear (1984), S. 251.
[26] Lewis (1937), S. 254.
[27] Vgl. Cork (1976), Bd. 1, S. 235.
[28] Michel (1971), S. 62.
[29] Vgl. Carpenter (1988), S. 247.
[30] Pound, Vortex. in: Blast 1,
S. 154.
[31] ...deren Name peinlicherweise falsch,
nämlich Sanders, gedruckt wurde.
[32] Roberts, Cometism and Vorticism. A Tate
Gallery Catalogue Revised. London 1956. zit. nach: Cork (1976), Bd. 1,
S. 247.
[33] Michel (1971), S. 152.
[34] Michel (1971), S. 63.
[35] Pound an Gladys Hynes, zit. nach: Cork
(1976), Bd. 1, S. 236.
[36] Blast 1, ganz am Anfang ohne Seitennummerierung.
[37] Lewis, The Melodrama of Modernity.
in: Blast 1, S. 143.
[38] Lewis (1937), S. 37-38.
[39] Lewis in: Blast 1, S. 148.
[40] Hulme (1924), S. 97.
[41] Pound, Wyndham Lewis, Egoist,
15 June 1914, in: Pound (1991), Bd. 1, S. 252.
[42] Lewis, zit. nach Meyers (1980), S. 68.
[43] Vgl. Michel (1971), S. 62.
[44] Meyers (1980), S. 63.
[45] Blast 1, ganz am Anfang ohne Seitennummerierung.
[46] Erschienen in Lacerba, 15. September
1913.
[47] Cork (1976), Bd. 1, S. 240.
[48] Lewis (1937), S. 42.
[49] Blast 1, S. 32-35.
[50] Blast 1, S. 41-42.
[51] Interview, zit. nach Cork (1976), Bd. 1,
S. 247.
[52] U.a. in: Orchard (1996), S. 303.
[53] Epstein (1963), S. 57.
[54] Vgl. dazu Cork in: Orchard (1996), S. 51-54:
In der originalen Plastik verschmilzt die Figur aus weißem Gips mit dem
schwarzglänzenden ready-made eines tatsächlichen Felsbohrers
aus dem Steinbruch zum modernistischen Symbol einer Mensch-Maschine. Bomberg,
der die Plastik zum ersten Mal im Dezember 1913 in Epsteins Atelier sah, bezeichnete
sie als ein Prophetisches Symbol des bevorstehenden Krieges. 1916 zerstörte
Epstein den ursprünglichen Rock Drill und stellt im Sommer nur noch
den Bronze-Abguß der Gipsfigur, die allerdings zu einem Torso geworden
ist, aus. Es ist nur noch ein Rumpf, dem jener Arm fehlt, der die Maschine bediente,
am anderen Arm fehlt die Hand. Der vormals stolz nach oben gereckte Kopf, scheint
sich nach Unheil spähend nach vorn zu strecken. Epsteins Haß auf
jenen Krieg, der ihm zwei seiner besten Freunde, Gaudier-Brzeska und Hulme,
raubte und bei ihm selbst zu einem totalen Zusammenbruch führte, findet
Ausdruck in diesem Rest seiner vorher als Ideal bewegender, durchdringender,
verheerender Kraft gefeierten Skulptur Rock Drill.
[55] Epstein (1963), S. 56.
[56] Etchells im Interview, zit. nach: Cork
(1976), Bd. 1, S. 110.
[57] Zit. nach der Übersetzung in: Cork
(1976), Bd. 1, S. 236; Original in: Pound (1918/1970), S. 51-52.
[58] Pound (1918/1970), S. 52.
[59] Lewis (1950/1984), S. 135.
[60] Lewis (1950/1984), S. 135.
[61] Zit. nach Pound (1918/1970), S. 17.
[62] Michel (1971), S. 63.
[63] Pound (1918/1970), S. 39.
[64] Pound (1918/1970), S. 39-40.
[65] Vgl. für die folgenden Zitate: Gaudier-Brzeska,
Vortex, in Blast 1, S. 155-158.
[66] Dieses Zitat und die folgenden: Lewis,
Our Vortex, in Blast 1, S. 147-149.
[67] Pound, Vortex, in Blast 1,
S. 153-4.
[68] Lewis (1963), S. 567.
[69] Meyers (1980), S. 63.
[70] Cork in Engert (1974), S. 6.
[71] Cork (1976), Bd. 1, S. 254.
[72] Goldring, South Lodge, zit. nach:
Cork (1976), Bd. 1, S. 254.
[73] Lewis in einem Artikel in Vogue,
September 1956, zit. nach: Cork (1976), Bd. 1, S. 254.
[74] Albright (1997), S. 164.
[75] Cork (1976), Bd. 1, S. 256.
[76] Michel (1971), S. 71.
[77] Pound (1908/1965), S. 56.
[78] Materer (1977), S. 175-176.
[79] Pound, zit. nach: Materer (1977), S. 176.
[80] Materer (1977), S. 176.
[81] Pound, How I Began, T.P.`s Weekly,
6 June 1913, in: Pound (1991), Bd. 1, S. 147.
[82] Pound, Brief an Iris Barry, 27 July 1916,
in: Paige (1950), S. 140.
[83] Ausnahmen bilden: Bell (1981), Kayman
(1986) und z.T. Nänny (1973), Albright (1997).
[84] Pound, Brief an Iris Barry, 27 July 1916,
in: Paige (1950), S. 140.
© antje pfannkuchen, Dezember 1999