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© antje pfannkuchen, Dezember 1999

 

Vom Vortex zum Vortizismus -- Teil 3


Pounds wissenschaftlicher Vortizismus

Pounds frühe Rezeption der Naturwissenschaften

Im ersten Kapitel wurde deutlich, daß der Vortex-Begriff, den Pound 1914 einer jungen, überwiegend aus Malern bestehenden, avantgardistischen Künstlergruppe für ihre Namensgebung lieh, ihm selbst schon lange vor der Gründung der Vortizisten gut bekannt war. Daß der Vortex Pounds von Beginn an naturwissenschaftlich konnotiert war, soll im folgenden Kapitel gezeigt werden.
Während seiner Studienzeit hatte Pound viele Berührungspunkte mit Naturwissenschaften, die selbstverständlich zu jedem College-Studium gehörten. Die in den meisten Biographien gefundene Angabe seiner Studienfächer mit Komparatistik und Romanistik ist eindeutig zu eng begrenzt. Vielmehr besuchte Pound auch Kurse in Geometrie, Algebra und Trigonometrie und erhielt darin in den ersten Jahren an der University of Pennsylvania sogar seine besten Noten.[1] Seine damalige heimliche Verlobte Hilda Doolittle, die spätere Dichterin H. D., studierte neben Latein und Englisch auch Chemie. Ihr Vater, der Ezra Pound als möglichen Schwiegersohn allerdings rundheraus ablehnte, war Astronomie-Professor. Später am Hamilton College gehörte neben drei Sprachlehrern, auch der Chemie-Professor, der ihn noch bei einem späteren Zusammentreffen in den zwanziger Jahren in Paris großzügig unterstützte, zu Pounds Lieblingslehrern.
Chemie und Physik bearbeiteten in dieser Zeit oft sehr ähnliche Gebiete. Die Entwicklung von Atommodellen beispielsweise war für die Chemie mindestens ebenso wichtig wie für die Physik. Nicht umsonst erhielt der Physiker Ernest Rutherford im Jahre 1908 den Chemie-Nobelpreis für Forschungen zum Zerfall von Atomen, die später in seiner Entwicklung des ersten Atommodells des 20. Jahrhunderts gipfelten. Unmengen von Büchern popularisierten um die Jahrhundertwende den wissenschaftlichen Diskurs[2], sogar Literaturzeitschriften nahmen, wie wir sehen konnten, an seiner Verbreitung teil und unterstützten so auch Pounds naturwissenschaftliche Wißbegier.[3]
Auf verschieden denkbare Weise wurde also die Aufmerksamkeit des jungen Dichters auf naturwissenschaftliche Modelle gelenkt, zu denen auch die im zweiten Kapitel dieser Arbeit vorgestellten gehören. Pound muß darin etwas vermutet oder gar schon erkannt haben, das er für geeigneter hielt, seine Sicht auf Dichtung, ja auf die Welt zu beschreiben als das meiste ihm bekannte philologische Vokabular. In den dichtungstheoretischen Texten, die er ab 1910 in großer Zahl veröffentlicht, kommt Pound immer wieder auf die Naturwissenschaften zurück, wenn auch erst 1913/14 wieder auf den Vortex.
Wenn man dem Hang zu Naturwissenschaften nicht eine gebührende Bedeutung in Pounds intellektueller Entwicklung einräumt, schlagen -- aus meiner Sicht -- auch alle Versuche fehl, jenen entscheidenden Schritt zu verstehen, den Pound im Spätherbst des Jahres 1908 machte. Als er Ende 1908 von Venedig nach London aufbrach, tat er es zwar auch, um W. B. Yeats, den Pound für den größten lebenden Dichter seiner Zeit hielt[4], kennenzulernen. Aber die ›innerliterarische‹ Begründung -- Schriftsteller folgt Schriftsteller -- reicht als alleiniger Grund für diesen so wichtigen Ortswechsel nicht aus. Immerhin hat es Humphrey Carpenter, ein Biograph Pounds, für Desinformiertheit gehalten, daß Pound seinen Entschluß, nach London zu gehen, damit begründet hat, daß London »the centre of at least anglo-Saxon letters, and presumably of intellectual action« war, und daß »there was more going on, and what went on went on sooner than in New York«[5]. Carpenter dämpft die Begeisterung: »Actually there was remarkably little going on in literary London in 1908; it was one of the dead periods in English writing.«[6]
Es muß also, wenn man Pound nicht tatsächlich einen Irrtum unterstellen will, etwas anderes als nur schöngeistige Literatur gewesen sein, das Pound nach London zog, ein anderer Wirbel, der seinen Sog ausübte. Die von Pound beschworenen ›anglo-Saxon letters‹, auf deren Spur er sich begab, indem er sich als erstes nach seiner Ankunft in London eine Lesekarte für das Britische Museum besorgte, mögen sich auf andere als belletristische Schriften bezogen haben. Wie wir wissen, interessierte sich Pound für die Naturwissenschaften und ihm muß klar gewesen sein, daß deren Zentrum zu dieser Zeit in London lag.
In jener Londoner Zeit bis zum Ende der 1910er Jahre war Pound deutlich erkennbar damit beschäftigt, sich eine Poetik zu erarbeiten, auf deren Grundlage er sein Hauptwerk, die Cantos, diese in ihrer Anlage am Vorbild von Dantes Divina Commedia orientierten Gesänge, würde schreiben können. Daß er sich in seinen jungen Jahren den Vorbereitungen des ›eigentlichen‹ Werkes widmete, hat Pound nie verschwiegen. In den dreißiger Jahren schrieb er: »I began an examination of comparative European literature in or about 1901; with the definite intention of finding out what had been written, and how.«[7] Und auch in einem Interview in den sechziger Jahren erinnert er sich:
    I did have the idea, at fifteen, of making a general survey. Of course whether I was or wasn't a poet was a matter for the gods to decide, but at least it was up to me to find out what had been done. [8]
Selbst wenn Pounds diesbezügliche Aussagen alle im Nachhinein gemacht wurden, so ist doch an seinen Schriften erkennbar, daß er grundlegende Aspekte seiner Poetik tatsächlich bereits in frühen theoretischen Texten für sich geklärt hatte. Samuel Hynes schätzt in den 1960er Jahren ein:
    There is nothing in his later work which contradicts, or even alters significantly, those early statements; Pound's poetic theory was fixed by the time he was thirty [...]. His most important statements date from the years 1913-16 -- the years immediately preceding the first Cantos. In the prose writings of this period we can see the process by which Pound formulated the aesthetic which underlies his epic; and it seems reasonable to say that the aesthetic had to be defined before the major work could proceed.[9]
Der Lebensabschnitt, den Pound für seine theoretische Basisarbeit verwendete, in dem er sich um eine Art literaturwissenschaftliche Selbstverständigung bemühte, war nicht lang. Daß er mit dem Beginn der tatsächlichen Arbeit an den Cantos im Wesentlichen seinen Abschluß fand, darin ist sich die Rezeption mit Pound selbst einig.[10] Pound schreibt 1923: »I consider criticism merely a preliminary excitement, a statement of things a writer has to clear up in his own head sometime or other, probably antecedent to writing.«[11] Sein preliminary excitement -- von Pound noch nicht einmal unter ›writing‹ subsumiert -- begann jedoch weit vor dem Jahre 1913. In dem oben bereits zitierten Interview, das Donald Hall 1960 mit ihm für die Paris Review führte, spricht Pound nicht nur von generellen Vorarbeiten, sondern er behauptet:
    I began the Cantos about 1904 [...] or 1905. The problem is to get a form -- something elastic enough to take the necessary material. It had to be a form that wouldn't exclude something merely because it didn't fit.[12]
Pound sucht nach einer Form, einem Stoff, einem Medium, in dem alles aufgehoben ist, der jeden künstlerischen Ausdruck ermöglicht, jedes Experiment erlaubt (so wie es die Cantos - literarisch - realisieren werden), nach einem Urstoff also, wie dem Äther, haltbar und dehnbar zugleich, jede nur denkbare künstlerische Äußerung aufzunehmen. Die naturwissenschaftlichen Begrifflichkeiten des ›elastic solids‹, dieses universalen Äthermediums, scheinen ihm geläufig zu sein und er benutzt sie, um auszudrücken, worauf es ihm in der Poesie ankommt.
In seinem 1910 veröffentlichten Buch The Spirit of Romance, das aus Vorlesungen entstand, die er am Londoner Polytechnic Institute gehalten hatte, bezieht Pound sich immer wieder ganz eindeutig auf die exakten Wissenschaften. Das Anliegen dieses Buches ist, wie Pound selbst im Vorwort erklärt, »to examine certain forces, elements or qualities which are potent in the mediæval literature of the Latin tongues, and are, I believe, still potent in our own.«[13] Diese besonderen Qualitäten der Dichtkunst, die alle Zeiten überdauern und von denen Pound berichten will, bedeuten -- ebenso wie wenig später, zumindest in Pounds Theorie, die gesamte vortizistische Kunst -- gerade keinen futuristischen Bruch mit jeglicher Tradition. Vielmehr beschwört Pound eine große Gemeinsamkeit aller großen Dichtungen aller Zeiten, eine Art ›Urgrund‹, der sie alle verbindet.
Erklären kann Pound diese Gemeinsamkeit aller dichterischen Meisterwerke am besten damit, daß »Poetry is a sort of inspired mathematics, which gives us equations, not for abstract figures, triangles, spheres, and the like, but equations for the human emotions"[14]. In einem späteren Text zum Vortizismus (1914) bezieht Pound sich direkt auf seine Erfahrung mit analytischer Geometrie, die er 1910 nur andeutete und dekliniert die qualitativen Stufen der Anwendung von Sprache und besonders des Gebrauches von Metaphern anhand von »four different intensities of mathematical expression [...], namely: the arithmetical, the algebraic, the geometrical, and that of analytical geometry«[15]. Während die symbolistische Metapher einen festen Wert habe -- genau wie arithmetische Zahlen (z.B. 1, 2, 7), habe das imagistische Image im Unterschied dazu den Status einer algebraischen Variablen (z.B. a, b, x).[16]
Wie Pound diese Unterscheidung versteht, wird an seiner Erläuterung von vier Stufen mathematischer Ausdrücke, denen er jeweils eine Sprachform zuordnet, deutlich.[17] Die arithmetische Gleichung 3*3 + 4*4 = 5*5, die auch in der Form 32 + 42 = 52 geschrieben werden könne, entspricht für ihn dabei der »conversation or ›ordinary common sense‹«. Die Abstraktion derselben Gleichung, die »algebraic relation« a2 + b2 = c2, ist für ihn »language of philosophy. IT MAKES NO PICTURE. This kind of statement applies to a lot of facts, but it does not grip hold of Heaven«. Zum dritten, formuliert Pound elegant[18], »when one studies Euclid one finds that the relation of a2 + b2 = c2 applies to the ratio between the squares on the two sides of a right-angled triangle and the square on the hypotenuse«. Dieser mathematischen Formel, die Pound als der einfachen oder auch deskriptiven Geometrie zugehörig bezeichnet, entspricht in seinem Sinne eine weitere Steigerung der Intensität von Sprache: »One still writes it a2 + b2 = c2, but one has begun to talk about form. Another property or quality of life has crept into one's matter. [...] But even this statement does not create form.«
Diese Kreation gelingt erst der vierten von Pound aufgezählten Variante des mathematischen Ausdruckes -- der Gleichung der analytischen Geometrie. Mit solch einem »idiom, one is able actually to create.« Und Kreation ist es, wofür Pound sich interessiert. So ›regiere‹ -- das sein Beispiel -- die Gleichung (x-a)2 + (y-b)2 = r2 den Kreis, nein -- sie ist der Kreis:
    It is not a particular circle, it is any circle and all circles. It is nothing that is not a circle. It is the circle free of space and time limits. It is the universal, existing in perfection.[19]

Aber schon in The Spirit of Romance, seinem ersten theoretischen Buch, bezeugt Pound, daß er sich nicht nur mit Geometrie, sondern auch mit anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen befaßt hat. So greift er direkt auf den Wissenstand der Physik seiner Zeit zurück, wenn er schreibt: »We have about us the universe of fluid force« und »in the realm of fluid force, one sort of vibration produces at different intensities, heat and light.«[20] Der fluidale Äther als Medium von elektromagnetischen Wellen ist ihm bekannt und in einem solchen Universum, das die kontemporären Naturwissenschaften -- eben auch mathematisch -- so exakt zu beschreiben vermögen, soll Pounds Dichtung nun die Formel für die Essenz des menschlichen Lebens verankern. Denn »Art is a fluid moving above or over the minds of men«[21], also in etwa so, wie jener zweite feinere Äther Stewarts und Taits nicht mehr nur die Materie umgibt und bildet, sondern einen ›spiritual body‹ formen soll und über den menschlichen Körper hinaus eine Verbindung zum Geist hat, zur Seele bzw. zum Bewußtsein[22].

 

Der Künstler als Wissenschaftler

1913, im Jahr vor der Taufe des Vortizismus, schien Pound der Vergleich der Arbeit eines Naturwissenschaftlers, die er in seinen College-Kursen kennengelernt hatte, mit der eines Künstlers, die er nun mehr oder minder täglich praktizierte, besonders zu beschäftigen. In mehreren Texten aus jenem Jahr zieht er diese Gegenüberstellung heran, um sich ganz klar von einer Genie-Ästhetik zu distanzieren, welche beispielsweise behaupten würde, daß »a lyric poet might as well die at thirty«; dagegen setzt er, daß »most important poetry has been written by men over thirty«[23]. Denn die Arbeit eines »serious artist« -- das macht Pound klar -- hat nichts mit spontaner Erleuchtung zu tun, sondern ist ein nachhaltiger, experimenteller Schaffensprozeß und insofern wiederum vollkommen vergleichbar mit naturwissenschaftlicher Arbeit:
    [The serious artist] is like a chemist experimenting, forty results are useless, his time is spent without payment, the forty-first or the four hundredth and first combination of elements produces the marvel.[24]
Zur Begabung und Tugend des ernsthaften Künstlers gehört somit auch, zu erkennen, welche Versuche mißglückt sind und wann er das ›Wunderbare‹ gefunden hat. Pound hält nichts von ›Sonntagspoeten und jugendlichen Schwärmern‹ -- so benannte er all jene Schreiber, die nicht seinen existentiell-szientifischen Ansprüchen an künstlerisches Arbeiten genügten -- die meinen, weil sie ein Gedicht veröffentlicht hätten, seien sie bereits große Dichter.
Für Pound war es, wie er selbst rückblickend erklärt, schon sehr früh klar, daß es vieler Anstrengungen bedarf, ein guter Dichter zu werden. Unter der Überschrift How I Began schrieb er 1913 in einem Zeitungsartikel: »I knew at fifteen pretty much what I wanted to do. I believed that the ›Impulse‹[25] is with the gods; that technique is a man's own responsibility.« Und er beschloß aus diesem Grund, also um sich eine Technik zu erarbeiten, die den ›göttlichen Impuls‹ umsetzen könnte, »that at thirty I would know more about poetry than any man living«. Pound wollte, wie er immer wieder betonte, wissen, was geschrieben war -- wie jeder Wissenschaftler, der als Student die bisherigen Erkenntnisse seines Faches studiert.
Diesen Ehrgeiz, ›alles‹ über Dichtung zu wissen, verteidigt Pound, obwohl er meint, daß ihm all seine Studien nicht wirklich beim Dichten selbst helfen könnten, da »no amount of scholarship will help a man to write poetry«. Jedoch wird ihn sein Wissen daran hindern, vermeintlich Neues zu erfinden, das schon längst existiert und er wird ein Bewußtsein für Qualität erlangen, welches »does help him to destroy a certain percentage of his failures«[26]. Tatsächlich muß Pound in seinen frühen Jahren Unmengen von Gedichten vernichtet haben, die er bei einer Relektüre für nicht gut genug erachtete.
Was Pound an der Arbeit der Wissenschaftler besonders schätzt, ist ihre Exaktheit, oder, wie er es nennt und gern auf die Literatur übertragen sähe: »a passionate desire for accuracy«[27]. Pound beklagt, daß
    it is nearly impossible to write with scientific preciseness about ›prose and verse‹ unless one writes a complete treatise on the ›art of writing‹, defining each work as one would define the terms in a treatise on chemistry[28].
Die meisten Literaturtheoretiker gehen nach Pounds Eindruck viel zu wenig genau mit den Objekten ihrer Studien um. In einer Rezension des Buches The Science of Poetry von Hudson Maxim[29] übt Pound bereits 1910 harsche Kritik: »His [Maxim's] first scientific definition of poetry depends on a word equally undefined, i.e., ›artistic.‹« Insgesamt gebe es in diesem Buch zwar einige gute Ansätze, die der Autor aber in keiner Weise ausfülle: »If he begins by saying that six is more than four, he ends by saying that green is a prettier color than pink.«
Pound ist es unverständlich, wie Maxim als Wissenschaftler -- er war Chemiker -- die nach Pounds Auffassung naheliegendsten Verwandtschaften übersehen konnte:
    The equations of analytical geometry [...] are, however, much nearer to poetry in their essential nature than anything Mr. Maxim succeeds in defining [...] I suspect that the noted chemist is as little a mathematician as he is master of English.[30]
Pound hat den Anspruch, daß man nur über Gebiete schreiben sollte, auf denen man Experte ist, d.h. von denen man auch die Details kennt, die dem Laien nebensächlich erscheinen, die deshalb auch nicht unbedingt explizit erörtert, jedoch für den Leser, der ebenfalls Experte ist, erkennbar sein müßten.[31] Pound hat deshalb für Maxims Buch nicht mehr übrig als einen kompletten Verriß, da es nach seinem Dafürhalten in keiner Weise dem ambitionierten Titel einer ›Wissenschaft der Poesie‹ gerecht wird.
In jener Forderung, die Pound für sich und andere aufstellte, daß man nur über Dinge schreiben soll, von denen man tatsächlich etwas versteht, ist der Grund dafür zu suchen, daß Pound damals selbst immer und überall ›nur‹ über Literatur schreibt, seltener über andere Künste und Lifestyle. Vor allem die Dichtung ist sein Fach. Er zieht jeden Vergleich heran, der ihm hilft, sich klarer zu artikulieren, aber er würde niemals eine im eigentlichen Sinne naturwissenschaftliche Abhandlung schreiben.
Pound erkennt die vorgeblich wissenschaftlichen Methoden des Chemikers Hudson Maxim, der offensichtlich über Poesie schreibt, ohne sich auf diesem Gebiet wirklich auszukennen und dabei auch noch außerordentlich unscharf argumentiert, nicht als solche an; denn
    poetry does admit of scientific analysis and discussion; it is subject to law and laws. [...] Poetry admits new and profounder explanations in the light of modern science, but Mr. Maxim has not contributed to the advance of this critical science.[32]
In diesem letzten Zitat Pounds erhält die Fragestellung der vorliegenden Arbeit eine nachdrückliche Bestätigung: im Lichte der modernen Wissenschaft erlaubt auch die Poesie neue und tiefere Inhalte und Erklärungen.
Für Pound wird es in jenen frühen Jahren zum größten Ziel, eine kritische Wissenschaft zu befördern, die zur Basis für sein eigenes dichterisches Werk werden soll. Im November 1911 erscheint Pounds erster Text in der Zeitschrift New Age, deren Herausgeber Alfred Richard Orage er kurz zuvor kennengelernt hatte. Orage hatte Pound eine Kolumne angeboten und eröffnete diese selbst mit folgenden Worten: »Under this heading« -- Pound setzte die ersten zwölf Artikel unter die Überschrift I Gather the Limbs of Osiris -- »Mr. Pound will contribute expositions and translations in illustration of ›The New Method‹ in scholarship.«[33] In einer ›Rather Dull Introduction‹, wie Pound selbst sie nennt, betont er, daß er keineswegs den Anspruch erheben würde, diese ›New Method in Scholarship‹ erfunden zu haben, vielmehr nennt er sie »a method which has been intermittently used by all good scholars since the beginning of scholarship«[34]. Ähnlich wie Kelvin in der Physik geht es Pound in der Literatur nicht darum, einfach eine neue Theorie zu erfinden, sondern mit den von ihm explizierten Thesen soll endlich die grundlegende Frage geklärt und damit dasjenige herausgestellt werden, das schon immer implizit in jedem Meisterwerk vorhanden war.[35]
Für Pound bedeutet diese Zielformulierung, daß er zunächst seinen Theorieentwurf auf den aktuellen Stand des zeitgenössischen Diskurses bringen will. Wodurch dieser bestimmt ist, wird gleich am Anfang klar:
    Axioms are the necessary platitudes of any science, and, as all sciences must start from axioms, [...] let me write a few pages of commonplace, of things which we all know and upon which we for the most part agree, and if you endure to the end of them you will know upon what section of our common knowledge I am to build the airy fabric of my heresies.[36]
Mit dem luftigen Gewebe -- diesem nahezu gewichtslosen Stoff (der auch eine Erfindung sein könnte) -- einmal mehr an den flüchtigen Äther gemahnend, bezieht sich Pound auf die axiomatische Methode, deren Ursprung in der Geometrie liegt, die jedoch gerade am Ende des 19. Jahrhunderts auf diverse andere Gebiete der Mathematik und Mechanik ausgedehnt worden war, offensichtlich vorbildhaft für Pound, der ihr nun auch außerhalb logisch-mathematischer Zusammenhänge zur Geltung verhelfen will. Der englische Mathematiker William Kingdon Clifford hatte bereits 1872 in einem Vortrag Über die Ziele und Werkzeuge des wissenschaftlichen Denkens, von dem mir die 1896 erschienene deutsche Übersetzung vorliegt, eine solche Vorgehensweise empfohlen: »es ist gerade das Beispiel dieser Wissenschaften [-- Geometrie und Mechanik --], welches die Menschen veranlasst, Genauigkeit auch auf anderen Gebieten anzustreben«.[37]
Pounds Häresien in den Osiris-Artikeln basieren darauf, daß er sich an derartige Vorbilder hält und verlangt, den Diskurs und die Methode der exakten Naturwissenschaften der Literatur zu implantieren. Das Ziel, welches er »in part in book form, in part in these columns« zu veröffentlichen gedenkt, ist dabei
    to clear up a certain messy place in the history of literature [...] to make our sentiment of it more accurate [...]. For it is certain that we have had no ›greatest poet‹ and no ›great period‹ save at, or after, a time when many people were busy examining the media and the traditions of the art.[38]

Diese Aufräumarbeiten gelingen Pound, wie von Clifford vorgeschlagen, »durch Übung im wissenschaftlichen Denken«[39].

 

Die Liebe zum Detail: Pounds Symbolbegriff

Sein Arbeitsprinzip beschreibt Ezra Pound als »method of Luminous Detail«, die sich in größter Feindschaft mit der »prevailing mode of to-day -- that is, the method of multitudinous detail« befinde, ganz zu schweigen von der »method of yesterday, the method of sentiment and generalisation«[40]. Während letztere Betrachtungsweise zu ungenau und allgemein sei, verliere sich die andere in unnötigen Nebensächlichkeiten. Pound geht es um einen gezielten Blick auf Details und er vergleicht die dabei zu leistende Anstrengung mit der Arbeit in einer Diamantmine: nicht jeder Steinbrocken ist wichtig, aber das geschulte Auge muß das wesentliche ›brillante‹ Detail bemerken, an dem der Rohdiamant zu erkennen ist. Genau dies sei die Aufgabe des Dichters, die entscheidende Einzigartigkeit einer Situation zu erfassen und darzustellen, die zu einem unverwechselbaren Kunstwerk führt.
    In the history of the development of civilisation or of literature, we come upon such interpreting detail. A few dozen facts of this nature give us intelligence of a period [...]. These facts are hard to find. They are swift and easy of transmission. They govern knowledge as the switchboard governs an electric circuit.[41]
Und auch hier wieder der Vergleich mit Beispielen aus der ›technical and practical education‹, von der die ›humanities‹ nach Pounds Ansicht so viel lernen können. Ein einziger Schalter an einer Schalttafel, ist oft der ausschlaggebende; ein kleines Stück Metall entscheidet, ob Strom fließt, oder nicht. Die Kenntnis von einem entscheidenden winzigen Detail einer Epoche kann über sie alles sagen. Was aber ist in der Kunst oder in den Geisteswissenschaften das entscheidende Detail? Diese Frage beschäftigt Pound.
Jedoch das Erfassen des Luminous Detail wäre nur ein Anfang, seine Repräsentation im Kunstwerk das eigentliche Ziel. Letzteres setzt wiederum die Beherrschung des jeweiligen Mediums voraus, worauf Pound immer wieder insistiert. Medium der Poesie sind Worte, ist die Sprache, und damit ist »its media« im Vergleich zu anderen Künsten »on one hand the simplest, the least interesting, and on the other the most arcane, most fascinating«[42]. Allein die bestmögliche Kenntnis des zu bearbeitenden Mediums lege die notwendige Basis für den wahren Künstler. Und jene Kunstfertigkeit -- »skill in technique« --, merkt Pound an, dabei Joseph Conrad zitierend, sei »something more than honesty«[43]. Sie basiere auf dem intensiven und genauen Studium von sowohl Medium, wie auch Tradition der entsprechenden Kunst.
Das für einen Musiker ebenso wie für jeden Wissenschaftler Selbstverständliche -- nämlich zum einen den Umgang mit seinem Instrument zu erlernen, zum anderen die ›Klassiker‹ seines Fachs zu studieren --, hielten in den Augen Pounds viele der ›praktizierenden Poeten‹ für überflüssig. 1912 drückt Pound in einem Brief an die amerikanische Verlegerin Harriet Monroe seinen Unwillen aus, diese Haltung weiterhin zu tolerieren. Monroe hatte Pound eingeladen für das Magazin Poetry, das sie gerade dabei war zu gründen, als eine Art Europakorrespondent mitzuarbeiten. Er ist interessiert, stellt aber Forderungen an seine Arbeitsbedingungen (wie auch einige Jahre später erneut, als er droht, seine Tätigkeit für Poetry zu beenden, wenn nicht T. S. Eliots Love Song of J. Alfred Prufrock darin veröffentlicht würde). 1912 dringt er in Harriet Monroe:
    Can you teach the American poet that poetry is an art, an art with a technique, with media [...] I'm sick to loathing of people who don't care for the master-work, who set out as artists with no intention of producing it, who make no effort toward the best [...] I've got a right to be severe.[44]
Pound nimmt die Kunst radikal ernst, sie ist für ihn niemals Zeitvertreib. William Carlos Williams erinnerte sich noch in den 1960er Jahren in seiner Autobiographie, daß »Ezra never explained or joked about his writing ... He joked, crudely, about anything but that.«[45] Wieder und wieder betont Pound die Ernsthaftigkeit künstlerischer Arbeit, wie 1913 in seinem Aufsatz The Serious Artist, wo er sich über die ›the immorality of bad art‹ beklagt:
    Bad art is inaccurate art. It is art that makes false reports. If a scientist falsifies a report either deliberately or through negligence we consider him as either a criminal or a bad scientist ... and he is punished or despised accordingly.
    [...] If an artist falsifies his report as to the nature of man, as to his own nature, as to the nature of his ideal of the perfect, [...] in order that he may conform to the taste of his time, to the proprieties of a sovereign, to the conveniences of a preconceived code of ethics, then that artist lies. If he lies out of deliberate will to lie, if he lies out of carelessness, out of laziness, out of cowardice ... he should be punished or despised in proportion to the seriousness of his offence.
    [46]
An diesem strengen Maß kann und muß somit auch Pounds eigene Arbeit gemessen werden. Bei einem solch großen Selbstanspruch, den Pound mit der Kunst und der Sprache, also mit dem Medium seiner Kunst verbindet, kann und muß man davon ausgehen, daß er weder in seiner Dichtung, noch in seiner Poetik beliebige, oder einfach nur wohllautende Metaphern verwendet. In solch einem Kunstverständnis gibt es keine zufälligen Vergleiche, sondern nur eine bewußte Entscheidung für den Vortex.
Der Vortex-Wortwahl metaphorologisch keine entscheidende und weitreichende Bedeutung beizumessen, widerspräche schon Pounds Auffassung vom ›Symbol‹ in der poetischen Sprache, wie er sie in seinem ›Credo‹ 1912 in der englischen Poetry Review veröffentlicht hat:
    I believe that the proper and perfect symbol is the natural object, that if a man use ›symbols‹ he must so use them that their symbolic function does not obtrude; so that a sense, and the poetic quality of the passage, is not lost to those who do not understand the symbol as such, to whom, for instance, a hawk is a hawk.[47]

Mit der scheinbar so harmlosen Wahl des Falken als Beispiel für seine radikale Symboltheorie deutet Pound bereits an, wieviel ein naiver Leser verpaßt, wenn er die umfängliche Bedeutung eines Symbols nicht kennt, sondern nur ›a sense‹, also einen Eindruck, und keine Gesamtimpression erhält. Den Falken einfach als einen Raubvogel zu betrachten, mit allen Implikationen, die das bedeuten mag, wird diesem Symboltier in keiner Weise gerecht. Der Liebhaber und Wissenschaftler der mittelalterlichen Minnelyrik, Ezra Pound, wird die beträchtliche Bedeutung des Falken vor allem im Mittelalter als Status- und Herrschaftssymbol schlechthin[48], wohl gekannt haben. Wenn er genau dieses Bild als Muster für seine Verwendung von Symbolen anbietet, klingt es, als lege er buchstäblich eine Falle aus, auf daß sich die Mehrzahl der weniger (als er) gebildeten Leser mit einer scheinbaren vordergründigen Metaphorik zufrieden gibt, während sich der gesamte Bedeutungsrahmen nur dem ›Eingeweihten‹ erschließt. Ganz so, wie Pound die Art der Gesänge des von ihm so sehr verehrten Dante beschrieb: »They make their revelations to those who are already expert«[49].
Ein solches Symbol, das hinter einer vordergründigen Metaphorik physikalisches Expertenwissen enthält, ist auch der Vortex. Daß der Vortex dies alles schon vom allerersten Gebrauch, den Pound von ihm machte, in sich vereinte, enthüllt eine erneute Lektüre des im ersten Kapitel vorgestellten Pound-Gedichtes Plotinus, die uns auf direktem Wege zum Vortizismus führt.

 

Plotinus

Plotinus, veröffentlicht in der Gedichtsammlung A Lume Spento[50], ist eines der frühesten Gedichte Pounds, die sich erhalten haben. Den Band A Lume Spento, der zugleich seine allererste Buchveröffentlichung überhaupt war, ließ Pound 1908, gerade aus Amerika angekommen, in Venedig auf eigene Kosten in einer Auflage von nur einhundert Stück drucken. Erst 1965 wurde er gemeinsam mit anderen Gedichten aus dieser ganz frühen Zeit, die teilweise noch nie publiziert worden waren, als Reprint wieder aufgelegt. Geschrieben hatte Pound Plotinus selbst jedoch offenbar schon 1905[51], kaum zwanzigjährig, mitten im Studium am Hamilton College in Upstate New York und damit in genau jener Zeit, auf die er rückblickend den Beginn der Arbeit an seinen Cantos datiert.[52]
Im Plotinus-Gedicht findet sich, wie zuvor erwähnt, zum ersten Mal in Pounds Veröffentlichungen der Terminus Vortex und auch bereits ein mit diesem Begriff deutlich verknüpfter Wissensdiskurs. Im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit habe ich die Interpretation des Plotinus/Vortex durch Timothy Materer vorgestellt. Diese Lektüre blieb jedoch schon philologisch unbefriedigend, weil ein frühgriechischer Kontext des Vortex weder im Gedicht selbst, noch durch seinen Titel nahezulegen ist. Im Folgenden will ich dagegen die These begründen, daß Pounds Vortex-Begriff schon in diesem frühen Gedicht stark durch den aktuellen naturwissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit konnotiert ist und aus diesem Kontext die Namenswahl des Vortex für den Vortizismus der englischen Kunstavantgarde in einem veränderten Licht erscheinen muß.
Einer überblickshaften Lektüre ist das Gedicht kaum zugänglich. Es ist schwer, eine schnelle Inhaltsangabe zu machen; noch unklarer bleibt, wie der Titel Plotinus zum Inhalt der Verse zu vermitteln ist. Die Kryptik dieses Poundschen Stücks mag mit dazu beigetragen haben, daß, soweit ich sehe, auch die Pound-Forschung sich einer gründlichen Lektüre des Plotinus-Gedichts eher enthalten hat. Einige Autoren weisen darauf hin, daß hier der Vortex zum ersten Mal in Pounds Werk auftaucht, aber bei diesem Verweis bleibt es zumeist.
Um einen Einstiegspunkt für eine Annäherung an Pounds Plotinus, und damit an seinen Vortex zu finden, sei im Folgenden nicht eine Übersetzung, sondern eine Wort-für-Wort-Übertragung des Gedichtes vorangestellt. Eine Übersetzung ins Deutsche ist mir überdies nicht bekannt. Ob eine Gedicht-Übersetzung, die schon allein die metrischen Eigenschaften zu wahren hätte, überhaupt weiterhelfen könnte, scheint ohnehin fraglich, da es hier gerade darum geht, an der Rekonstruktion eines Diskurses der Naturwissenschaften zu arbeiten, der in dieser Lyrik gleichsam eher aufgehoben ist, als daß er sich offen zeigte, bisher noch von den meisten Pound-Lesern übersehen oder nicht ernst genommen wurde und durch eine poetisch tragfähige Übersetzung wohl eher wieder verdeckt werden müßte.


Plotinus


As one that would draw through the node of things,
(Wie Eines, das durch den Knoten der Dinge ziehen würde)
    Back-sweeping to the vortex of the cone,
    (Zurückschwingend zum Vortex des Kegels)
    Cloistered about with memories, alone
    (Weltabgeschieden in Erinnerungen, allein)
In chaos, while the waiting silence sings:
(Im Chaos, während die wartende Stille singt:)


Obliviate of cycles' wanderings
(Vergiss die Wanderungen der Zyklen)
    It was an atom on creation's throne
    (Es war ein Atom auf der Schöpfung Thron)
    And knew all nothing my unconquered own.
    (Und wußte gar nichts, mein ungebrochenes Eigenes.)
God! Should I be the hand upon the strings?!
(Gott! Sollte ich es sein, der die Hand an den Fäden hat?!)


But I was lonely as a lonely child.
(Aber ich war einsam wie ein einsames Kind.)
I cried amid the void and heard no cry,
(Ich schrie inmitten der Leere und hörte keinen Schrei,)
And then for utter loneliness, made I
(Und dann, aus lauter Einsamkeit, machte ich)
New thoughts as crescent images of me.
(Neue Gedanken als sich abzeichnende Bilder von mir.)
And with them was my essence reconciled
(Und mit ihnen war mein Wesen ausgesöhnt)
While fear went forth from mine eternity.
(Während die Angst wich von meiner Ewigkeit.)


Plotinus ist ein Sonett. Der junge Pound hat sich hier in jener einzigartigen Gedichtform der westlichen Literatur versucht, die bereits in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, beeinflußt von der Liebesdichtung provenzalischer Troubadoure, in der sizilianischen Schule der Hofpoeten entstand und von da aus in fast alle europäischen Literaturen verbreitet wurde. Die Minnedichtung der provenzalischen Troubadoure und die davon beeinflußte romanische Literatur -- allen voran Dante Alighieri -- gehörten, im College beginnend, über Jahrzehnte hinweg zu Pounds Lieblingsthemen und seine erste Buchveröffentlichung in Prosa, The Spirit of Romance, beschäftigte sich genau damit[53] in extenso. Diese persönliche Vorliebe, und auch das wiederauflebende Interesse an der Sonettform unter den Symbolisten vor der Jahrhundertwende ganz allgemein, mochten für Pound Grund genug gewesen sein, sich an dieser äußerst strengen, argumentativen Gedichtform selbst zu versuchen.[54]
Plotinus ist daher auch nicht das einzige Sonett in dem ersten Gedichtband Pounds. Weder die beiden weiteren, die sich in A Lume Spento finden, noch die übrigen der etwas mehr als vierzig Gedichte geben offensichtliche Hinweise, die das Verständnis von Plotinus erleichtern würden. Die überwiegende Zahl der Verse in diesem Band schließt sich thematisch an die Troubadourlyrik an, einige auch an Keltische Mythologie, viele sind »sentimental and archaic-sounding«[55]. Ein amerikanischer Rezensent diagnostiziert für diese frühe Arbeit Pounds den starken Einfluß von Walt Whitman. Der Bezug auf die englischen Dichter Dante Gabriel Rossetti, Algernon Charles Swinburne, Ernest Dowson und W. B. Yeats scheint so klar, daß er keiner weiteren Diagnose bedarf; aber auch Ovid, Robert Browning und weiteren Dichter-Vorgängern zollt Pound in diesem Band Tribut. Wie sie war auch Pound »imbued with the spirit of Dante«[56]. Pounds Biograph Humphrey Carpenter bezeichnet den Gedichtband als »a series of passionate statements on the matters that concern him most, cast in this form only because he had to wear masks«[57]. Noel Stock, ein weiterer Biograph, dagegen schreibt: »Much of A Lume Spento is merely quaint and some of it is plain bad.«[58] Aber das in Rede stehende Plotinus-Gedicht wird von den meisten Rezensenten wiederum nicht erwähnt, Carpenter immerhin liest aus dem Sonett den Wunsch »to undergo some kind of mystical-intellectual experience«[59], den er gleichwohl in Plotinus nicht in Erfüllung gehen sieht.
Betrachten also wir Plotinus genauer: die vierzehn Zeilen des Sonetts ordnen sich klassisch zu zwei Vierzeilern (Quartette) und zwei Dreizeilern (Terzette), wobei letztere der äußeren Form nach nicht deutlich voneinander getrennt sind. Die Reimform der Quartette ist abba abba, die der Terzette unregelmäßig cdd ece. Bekannt ist, daß der äußeren Form eines Sonetts der syntaktische Bau und die innere Struktur entsprechen müssen und daß sich von daher thetische und antithetische, also argumentativ inhaltliche Besonderheiten eines Sonetts ergeben:

    Die Quartette stellen in These und Antithese die Themen des Gedichtes auf; die Terzette führen diese Themen in konzentriertester Form durch und bringen die Gegensätze abschließend zur Synthese. Quartette und Terzette stehen sich im Verhältnis von Erwartung und Erfüllung, von Spannung und Entspannung gegenüber, syntaktisch oft in Form von Voraussetzung und Folgerung, Behauptung und Beweis.[60]
Im Zusammenhang mit der anspruchsvollen Form und der dadurch bedingten Forderung strukturierter Klarheit wurde die »gedankliche Objektivierung subjektiven Erlebens« zu einem thematischen Grundzug der Sonettdichtung. Die behandelten Themen reichen vom »Eros in seiner vielgestaltigen Dämonie« über Gott, Tod, bis zum persönlichen Schicksal, aber auch politischem und sozialem Geschehen. Gott, als einziger dieser thematischen Begriffe, wird in Plotinus explizit benannt: ›God!‹, als Ausruf -- des Erschreckens oder des Erstaunens? Der nachfolgenden Frage nach zu urteilen, ist es eher ein Staunen, ein positives Erschrecken. ›Sollte ich es sein? Ich, der die Fäden in der Hand hält? Nachdem ich doch noch gerade zuvor nichts wußte?‹ Wie kommt es zu diesem offensichtlichen Umschwung? Ist das die noch ungläubig fragende Behauptung des Sonetts, im Ensemble von ›Voraussetzung und Folgerung, Behauptung und Beweis‹?
Lesen wir das erste Quartett und die thematische Wiederanknüpfung im ersten Terzett als Bestandsaufnahme der Ausgangssituation. Es handelt von Einem (Etwas, einem Ding, einem Menschen, einem Ich?), das durch den Knoten der Dinge zieht, möglicherweise gezogen wird, das zum Vortex des Kegels zurückschwingt, in den kegelförmigen Wirbel zurückläuft, zurück gerissen wird, ja weggewischt. Das durchaus personal zu lesende ›one‹, wird in Kombination mit ›that‹ zu einem Ding, passiv herumgestoßen im Chaos. Was es erfährt, ist Abgeschiedenheit; es bleiben einzig Erinnerungen und eine Einsamkeit, die so groß ist, wie sie nur einem von allen und allem verlassenen Kind erscheinen kann. Gleichzeitig ist das Chaos so immens, so brüllend, daß niemand, noch nicht einmal der Rufer selbst die verzweifelten Schreie hören kann, die er ausstößt.
Für den in der amerikanischen Literatur Bewanderten erinnert das Szenario zu deutlich an Edgar Allen Poes Erzählung A Descent into the Maelstrom[61], als daß diese Referenz hier nicht herangezogen werden müßte. Zudem finden wir in dieser Quelle eine explizite Verwendung des Vortex-Begriffs, die ganz zweifellos zum literarischen Vorwissen des jungen Dichters Pound gehörte. -- In Poes Erzählung werden die Fischer während eines Hurrikans mitsamt ihrem Schiff in einen riesigen Strudel, ein ›Loch im Meer‹ von einer Meile Durchmesser, gerissen. Inmitten dieses Höllenspektakels, am Rande dieses tosenden Unheils, dieses unvorstellbaren Wasserwirbels, dieses ›Vortex‹, der jeder Beschreibung spottet, versucht der Erzähler, sich mit seinem ebenfalls auf dem Boot befindlichen Bruder zu verständigen:
    I now made one or two attempts to speak to my brother -- but, in some manner which I could not understand, the din had so increased that I could not make him hear a single word, although I screamed at the top of my voice in his ear.[62]
Jeder Schrei erscheint lautlos gegen die Ungeheuerlichkeit dieses Abgrundes, der in Poes Geschichte mit dem Namen Vortex belegt wird. Im Vortex des Strudels ist jegliche Kommunikation unterbrochen. Das Schiff und erst recht seine Besatzung sind zu einem Spielball übermächtiger Gewalten geworden. Es gibt keinen Kontakt mehr zum Rest der Welt.
Nun aber folgt bei Poe ein zutiefst erstaunlicher Umschwung. Auf eine ihm selbst rätselhafte Weise gelingt es dem Erzähler, einen kühlen Kopf wiederzugewinnen, dem ihn umgebenden Chaos zu entrinnen, während er noch mitten darin gefangen ist, und er beginnt, seine vollständig aus den Fugen geratene Umwelt detailliert zu beobachten. Er wird gewahr, daß sich das Boot auf der Innenseite eines überdimensionierten Wassertrichters im Kreis bewegt, Mal um Mal eine »circuit of the whirl« absolvierend, und er sieht, daß sich auch andere Materialien in diesem Wirbel befinden, kreiselnd mitgerissen bewegen sie sich -- manche schneller, manche langsamer -- dem nicht zu ergründenden Schlund im Zentrum entgegen.
Nach und nach erkennt er ein System, nach dem besonders geformte Körper entweder besonders schnell (kugelförmige) oder besonders langsam (zylinderförmige) dem Abgrund zustreben, und entdeckt damit unwissentlich ein Archimedisches Prinzip, das er sich im Nachhinein erklären ließ[63]. Dieser Erkenntnis verdankt er sein Leben, das ihm im retrospektiv wie ein zweites geschenktes erscheint, weil er dank seiner Beobachtungen den Mut faßt, den vermeintlich sicheren Ort auf dem Boot zu verlassen, an den sich sein Bruder bis zum Ende klammert und mitsamt dem Schiff in den Abgrund gerissen wird. Dem Erzähler dagegen gelingt es, sich auf ein vorbei treibendes zylinderförmiges Faß zu stürzen und daran festzuhalten bis sich der Strudel auflöst und er als Strandgut von seinen Fischerkollegen aufgesammelt wird.
Die Parallele ist offensichtlich: Auch in Pounds Plotinus hängt der Umschwung der Situation, die Veränderung, welche die Rettung bringt und aus einem passiven Objekt inmitten des wirbelnden Chaos ein mit seinem Wesen am Ende versöhntes Subjekt macht, mit einem naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess zusammen. Freilich benennt Pound diesen Prozess nicht als solchen, er widmet ihm keine erklärende Fußnote, wie es in Poes Text geschieht. Nichtsdestotrotz enthüllt er sich dem ›Experten‹ des physikalischen Vortex.
Ganz am Ende vom ersten Quartett, in der vierten Zeile, wird der Umschwung annonciert: »alone / In chaos, while the waiting silence sings:« die wartende, unter Umständen erwartungsvolle Stille, in der es ein Singen gibt, löst ihren Widerspruch zum Chaos auf, das so laut ist, daß nichts mehr zu hören ist. Und man hört, was sie singt: ›Vergiß die zyklischen Wanderungen‹, die schwindligmachenden Drehungen, die kreiselnden Umläufe, die zu keinem Ziel, sondern vielmehr kreisförmig ins Verderben führen; »obliviate«, - tilge sie aus dem Gedächtnis, laß sie der Vergessenheit anheimfallen, sie erübrigen sich.
Was zu vergessen ist, ist ein ›altes‹, was zu gewinnen ist, ist ein ›neues‹ Verständnis vom Vortex. Pound verweist auf einen Vortex, in dem der Wirbel nicht zerstört und vernichtet, sondern zum schöpferischen Atom wird, zum ›atom on creation`s throne‹. Das ist, fern ab von Poes Vortex-Rettung, und doch seinem szientifischen Gestus eng verwandt, eben genau jene Version des Vortex-Wirbels, deren naturwissenschaftliche Dimension ich versucht habe, im zweiten Kapitel zu umreißen.
Allein vor diesem physikalisch zeitgenössischen Hintergrund des Vortex und in Sonderheit vor dem Horizont einer Lektüre des Unseen Universe von Balfour Stewart und Peter Guthrie Tait, erhellt sich nun auch die staunend erschreckte Frage »God! Should I be the hand upon the strings?!« In sprachlicher Genauigkeit vereint Pound in den ›strings‹ die Wirbelfäden und ›Vortex rings‹ mit jenen symbolischen Fäden, die Einer in der Hand hat. Die Hand an den Wirbelfäden wäre auch bei Stewart und Tait die göttliche schaffende Hand. Zudem aber rekurriert das in der erwartungsvollen Stille singende Subjekt mit seiner erstaunten Frage -- ob es möglich wäre, daß es selbst jene Hand sei? -- auf eine Art der szientifischen Gotteserfahrung, auf eine Verschmelzung mit der von Stewart und Tait so benannten ›Divine Agency‹[64], die uns jetzt zurückführt zu dem Philosophen Plotin und damit zurück, oder besser: endlich hin zum bislang unerklärlichen Titel des Gedichtes.
In Johannes Hirschbergers Philosophiegeschichte lesen wir über Plotin, den Begründer des Neuplatonismus:
    Plotin lehrte nämlich seine Philosophie nicht nur, er lebte sie auch, und auch er zählt zu jenen echten Repräsentanten philosophischer Haltung, für die Philosophie nicht bloß Bücherweisheit und Historismus ist, sondern Lebensformung. [...] Die Philosophie Plotins ist das Ergebnis zweier Gedankenbewegungen. Auf der einen Seite wird das Sein auseinandergerissen in eine übersinnliche und eine sinnliche Sphäre, und auf der anderen Seite wird wieder unternommen, diese Kluft zu schließen, indem man über eine Reihe von Zwischenstufen versucht, letzteres aus ersterem abzuleiten. Dualismus und Monismus stehen somit in einer dialektischen Spannung.[65]
Diese Dualität, ja Dialektik im Denken Plotins macht seine Philosophie wie geschaffen für die Auseinandersetzung mit ihr in einem Sonett, das These und Antithese schließlich in einer Synthese verbindet. Die Synthese, oder nach anderer Lesart auch der Beweis der vorher aufgestellten Behauptung, der Ausweg aus den widerstreitenden Gegensätzlichkeiten, findet sich in Pounds Plotinus-Gedicht im zweiten Terzett. Die noch bange Frage »God! Should I be the hand upon the strings?!« wird bejaht und unterstrichen durch ›New thoughts‹, die als sich abzeichnende Bilder eines anderen, aus dem strudelnden Sog befreiten ›I‹ das vormals so zerrissene Selbst mit seinem Wesen versöhnen mögen und die die Angst vertreiben für alle Ewigkeit in einer Vereinigungserfahrung mit Gott: ›God! Should I be (God who has) the hand upon the strings?!‹
Eine solche in Plotinus beschriebene Erfahrung wird Plotin der Überlieferung nach sogar mehrfach in seinem Leben nachgesagt:
    [Plotin] selber war bedürfnislos. Essen und Schlafen wurden auf das Notwendigste eingeschränkt; er war Vegetarier, blieb unverheiratet und lehnte es ab, sich porträtieren zu lassen, ›damit nicht das Schattenbild eines Schattenbildes entstehe‹. Dafür lebte er um so mehr der wissenschaftlichen Betrachtung und der Hingabe an das höchste Gut. Viermal soll ihm die ekstatische Vereinigung mit der Gottheit zuteil geworden sein.[66]
Um eine Vereinigung mit der schöpferischen Gottheit, der ›Divine Agency‹, die die Hand an den Wirbelfäden hat, geht es auch in Pounds Sonett Plotinus. Eine poetisch-religiöse Erfahrung verbindet sich darin mit einem zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Diskurs bzw. artikuliert sich mit Hilfe dieses Diskurses, dessen Erkenntniskraft Pound fasziniert haben muß. So schreibt er 1910:
    Some mystic or other speaks of the intellect as standing in the same relation to the soul as do the senses to the mind; and beyond a certain border, surely we come to this place where the ecstasy is not a whirl or a madness of the senses, but a glow arising from the exact nature of the perception.[67]
Die Erfahrung exakter wissenschaftlicher Wahrnehmung verbindet sich hier explizit mit dem ekstatischen Erlebnis, das aus dem wirbelnden Chaos hinaus führt. Pound steht mit seinem sehr unmittelbar bezüglichen Umgang mit Wissenschaft durchaus nicht allein. Erinnern wir uns an Saleebys populären Text aus Harper's Magazine. Die ›Immanent Cause‹ der Gravitation, deren Zusammenhang zum Vortex Saleeby andeutet, beschreibt er als lebensspendend,
    ever binding us to the preserving sun, from which our planet would otherwise hurl itself in suicide, it actually proceeds to supply the human mind with the best proof of what is perhaps its most lofty conception. That conception is that this vast and multiform world [...] is a Universe, One, a Cosmos, not a Chaos.[68]
Überall findet sich das Gegensatzpaar von Chaos und wissenschaftlicher Erkenntnis, ein Zeichen dafür, wie sehr man sich auf die ordnende Kraft des wissenschaftlichen Kontinuitätsprinzips verließ.

 

 

Die Universale Kunst -- der Äther des Vortizismus

So also lesen wir den Poundschen Vortex als eine Art Schibboleth der bis 1914 entwickelten Kunst- und Literaturtheorien Ezra Pounds. Das Gedicht Plotinus kann als programmatisch betrachtet werden, selbst wenn es noch unausdrücklich, fragend formuliert. Noch Jahre später war Pound auf der Suche nach einer bewußten Ausdrucksform, die ihm das Gefühl gegeben hätte, sicher arbeiten zu können und die er erst beginnend mit dem Vortizismus zu finden scheint. In den dreißiger Jahren erinnert er sich: »I hadn't in 1910 made a language, I don't mean a language to use, but even a language to think in.«[69] Pound befindet sich in einem Stadium des Experimentierens, am intensivsten in seiner Londoner Zeit ab 1908, und die Naturwissenschaften sind in seiner Sprachfindung eine wichtige, wenn nicht in dieser frühen Zeit gar die wichtigste Quelle für Neuerungen. Sein Gebrauch des Vortex in Plotinus und erst recht im Vortizismus enthüllen dem Kenner des physikalischen Wirbel-Begriffes ein erstaunliches Ausmaß der naturwissenschaftlichen Kenntnisse Pounds.
Als er beginnt, sich in seiner poetischen Sprache sicherer zu fühlen, wagt Pound, seinen Vortex einer großen Öffentlichkeit zu präsentieren. Nach dem Plotinus-Gedicht in kleinster Auflage und zwei privaten Briefen, benutzt er in der Vortizisten-Zeitschrift Blast, Ende Juni 1914, den Begriff Vortex zum ersten Mal öffentlich: VORTEX. POUND.[70] Das Symbol des Vortex enthält die von ihm angestrebte Oszillation zwischen offenkundiger Symbolik und Expertenwissen in geradezu beispielhafter Manier. Die meisten Vortizisten und fast alle späteren Rezipienten des Vortizismus begnügen sich mit der vordergründigen Bedeutung des Vortex als wirbelndem Strudel und Pound hat es -- seinem Credo entsprechend -- darauf angelegt und verstanden, den Vortex auf eine Weise zu präsentieren, daß sich eine weitergehende Symbolik nicht ›aufdrängt‹. Diese entschlüsselt nur der Experte; ganz so, wie Pound es an anderer Stelle ausdrückt: »For the initiated the signs are a door into eternity and into the boundless ether«[71]. Der Vortex weist auf den Äther, vereinigt auf diese Weise das Größte und das entscheidende Kleinste, Medium und Luminous Detail, die beiden Dinge, auf die es Pound schon seit langem ankam.
Pounds Vortex-Artikel in Blast referiert nahezu überdeutlich auf den ekstatisch-physikalischen Vortex-Diskurs. Der Mensch und Künstler sei mit dem »DIRECTING« einer »certain fluid force« beschäftigt; seine Tat sei das »CONCEIVING«. ›To conceive‹ reicht in seiner Wortbedeutung von ›eine Idee oder ein Konzept entwickeln‹ bis zu ›ein Kind empfangen‹; es ist also ein Schöpfungsakt schlechthin, eine Schöpfung, die darin beruht, eine fluidale Kraft so zu lenken, daß ein ›primary pigment‹ dabei entsteht, welches sich auf eine künstlerische Weise äußert. Hier wird nun Pounds Künstler wahrlich zu dem, wofür bei Stewart und Tait die ›Divine Agency‹[72] stand. -- Während er in seinem Plotinus-Gedicht von 1905 noch zweifelnd fragte: »God! Should I be the hand upon the strings?!«[73] erklärt Pound hier ganz eindeutig denjenigen zum Künstler, der eine Fähigkeit besitzt, die er in seinem Brief an seine Verlobte Dorothy im September 1913 »ability to make a vortex«[74] genannt hatte. Denn nichts anderes als der Vortex -- der Wirbel im fluidalen Äther -- ist das ›primary pigment‹, aus dem alles besteht, wie wir von den viktorianischen Physikern gelernt haben.

 

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In dem Abschnitt ›THE TURBINE‹ versucht er, das anfangs klare physikalische Bild vom Wirbel wieder zu verwischen; denn als Künstler der Sprache weiß er, wie man verhindert, daß ihr zu leicht auf die Schliche zu kommen ist. Sein elitäres Credo bleibt: Nur der ›expert‹ kann durchschauen, wovon Pound eigentlich schreibt. Wiederum kommt er auf die ›primary form‹ zurück: »EVERY CONCEPT, EVERY EMOTION PRESENTS ITSELF TO THE VIVID CONSCIOUSNESS IN SOME PRIMARY FORM.« Wie der physikalische Wirbel, der durch unterschiedliche Verknotungen die verschiedenen Atome des Universums bilden soll, so äußert sich für Pound die primäre künstlerische Kraft in den verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen.
Diese Vorstellung, daß es für alle Künste einen gemeinsamen ›Urgrund‹ gibt, ist keine absolute Neuheit bei Pound. Schon zwei Jahre vor dem Vortizismus-Text von 1914, bereits im Februar des Jahres 1912, unternahm es Pound, in einem Artikel über Musik, seine poetische Theorie auf alle Künste auszudehnen: »there is one art and many media« und »any given work of art is bad when its content could have found more explicit and precise expression through some other medium, which the artist was, perhaps, too slothful to master.«[75]
Er definiert die Qualität eines Kunstwerkes durch die Einzigartigkeit seiner Aussage, die in keinem anderen Medium besser hätte artikuliert werden können.
In der Theorie des Imagismus, die er am Ende seines Vortex-Artikels in Blast noch einmal zitiert, hatte Pound 1913 versucht, dieser Einzigartigkeit der Poesie näher zu kommen. Im Dezember 1912 erwähnte er in einem Artikel für das Magazin Poetry, der den ›Stand der Dinge‹ des Londoner literarischen Lebens dokumentieren sollte, zum ersten Mal »the youngest school« der Szene, »that of the Imagistes«.[76] Gemeinsam mit dem jungen englischen Dichter Richard Aldington und seiner früheren heimlichen Verlobten Hilda Doolittle, genannt H.D., die aus Amerika angereist war, hatte Pound selbst diese Künstlergruppe ins Leben gerufen und Les Imagistes getauft. Sein Positionspapier, A Few Don'ts by an Imagiste, erschien im März 1913 gleichfalls in Poetry, dazu eine aus einem Interview mit Pound entstandene kurze Zusammenfassung der Theorie dieser imagistischen Schule durch den Dichter-Journalisten F. S. Flint, der sich wenig später der Gruppe anschloß.
Das von Pound erklärte imagistische Ziel war es damals -- ähnlich der in der New Age-Kolumne bereits formulierten Position -- nicht, mit jeglicher künstlerischer Tradition zu brechen, wie es etwa die Futuristen proklamierten. Vielmehr wollten die Imagisten in der Tradition ›der besten Dichter aller Zeiten‹ schreiben und auf diese Weise mit ihrer Dichtung ein Image kreieren. Es sei besser »to present one Image in a lifetime than to produce voluminous works«. Ein Image, so schreibt Pound, sei dasjenige, »which presents an intellectual and emotional complex in an instant of time«[77], ist also im besten Sinne wiederum ein Luminous Detail, das alle notwendigen Informationen enthält, um einen Gesamteindruck zu erzeugen.
Mit genau diesem »intellectual and emotional complex in an instant of time« zitiert Pound 1914 sich selbst unter der Überschrift des Vortex, der nun ebenso schlicht wie plakativ zum Inbegriff des poetischen Image mutiert. Im wesentlichen Unterschied zu diesem aber bezieht der Vortex sich quasi automatisch auf alle Künste, denn, wie Pound etwa zur selben Zeit in einem Artikel über James Joyce schreibt: »The spirit of a decade strikes properly upon all of the arts.«[78] Der »spirit of a decade« -- metaphorologisch konkret betrachtet also jener flüchtige Äther, der durch Wirbelbewegungen die unterschiedlichsten Materialien bildete -- betrifft, wieder einmal durchaus doppelsinnig, alle Künste ebenso wie alle Wissenschaften; und das, selbst wenn sich die Verbindung an der Oberfläche bzw. für einen oberflächlichen Betrachter nicht zeigt.
Die offenkundige emotionale Konnotation des Wirbel-Images begünstigt seine Einsetzung. Aufruhr beabsichtigten die Vortizisten allemal, und ihnen liegt an der Vorstellung eines energetischen Zentrums. Zu einem Image in Pounds Sinne gehört jedoch unbedingt mehr, nämlich eben auch jener ›intellectual complex‹, der im Fall dieses Wirbels weitaus versteckter liegt, sich nur dem ›Experten‹ erschließt.
Der Imagismus scheint im Vortizismus nur eine Namensänderung erfahren zu haben. Nach allem, was Pound über Vortizismus schreibt, ist Imagismus gleich vortizistische Poesie: »Vorticism has been announced as including such and such painting and sculpture and ›Imagisme‹ in verse.«[79] Pounds Entwicklung des Begriffes, auf dem seine poetische Theorie aufbaut, kann somit verfolgt werden von der ›absoluten Metapher‹, über das ›luminous detail‹ und das ›Image‹, bis er schließlich mit dem Vortex jenen Terminus (wieder-)findet, der am Grunde aller Dinge steht und mit dem es Pound gelingt, eine Einheit der Künste zu behaupten und -- im Vortizismus -- zu forcieren. Pound versucht so, einen quasi-wissenschaftlichen Standard für Kunst zu etablieren, mit dem eine Beurteilung von Kunstwerken jenseits von individuellem Geschmack ermöglicht werden soll.
Wir haben gesehen: Auf eine bestimmte Weise ähnelt der Vortizismus tatsächlich dem Äther. Er soll umfassend sein und die Kunst als Ganzes bestimmen. Das Ätherparadigma läßt den Vortizismus überhöht erscheinen gegenüber allen anderen Richtungen der Avantgarde der Jahrhundertwende, zu denen die vortizistische Bewegung ganz offensichtlich in Konkurrenz treten will. Daß dies, für die Gruppe der Vortizisten selbst, mehr ein Phantasma war und weniger eine entsprechende künstlerische Gruppendynamik in Gang setzte, haben wir gezeigt. Es gab die einzelnen Künstler (Atome), das sie verbindende Medium (Äther), der Vortizismus, wurde jedoch von jedem Einzelnen anders wahrgenommen und beschrieben.
Was Kelvin selbst nie verschwiegen hat, in seiner zeitgenössischen Rezeption aber ganz an Bedeutung verliert: der Äther ist eine Hypothese, die der Erklärung physikalischer Phänomene dient, die anders nicht erklärbar schienen. Die Ätherwirbel sind ein vollkommen theoretisches Modell, dem es gelingt, polar entgegengesetzte Modelle -- Flüssigkeit und Härte, Kontinuum und Atom -- zu vereinigen; daß es an konkreten Experimenten gefehlt hat, die Existenz des Äther-Stoffes zu beweisen, beeinflußt und berührt diese Theorie über Jahrzehnte nicht. Als Kern eines »viktorianischen Atommodells« äußert sich in ihr implizit der Großmachtsanspruch des Britischen Empire.
Pounds Kunstanspruch, in der Figur des Vortex verdichtet, ist von daher zugleich szientifisch, elitär und allumfassend. Kunst kann nur vom Experten in ihrem ganzen Ausmaß verstanden werden, betrifft aber alle und alles. In diesem imperialen Begehren trifft sich Pounds Kunsttheorie mit der viktorianischen Ätherwirbel-Atomtheorie. Mit dem übergreifenden Vortex-Begriff, der der Künstlerbewegung den Namen gibt, mit der Pound seine Ziele künstlerisch verbindet, bewegt sich Pound, wie er sicher weiß, auf der gleichen Ebene wie die Physik, die im Vortex die Welt ebenso allumfassend zu erklären sucht wie Pound.


 


 

 

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© antje pfannkuchen, Dezember 1999